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Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Titel: Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Weile wurde es schwierig, durch die weit vor ihr liegende Windschutzscheibe an den beiden dunkelroten Kapuzen vorbei den Straßenverlauf zu verfolgen, und noch eine Weile später interessierte es sie nicht mehr. Sie gab sich der Situation vollkommen hin. Es war paradox: Der Hauch der Gefahr, der sie umwehte, gab ihr Ruhe und Sicherheit.
    Als ihr Wagen anhielt, wartete sie, bis ihr die Tür geöffnet wurde. Durch die Windschutzscheibe war lediglich ein Stück Mauerwerk zu sehen, das beinahe zu Falkengrund hätte gehören können. „Misstraue dem ersten Eindruck“, sagte die hauchende Stimme des Mannes auf dem Beifahrersitz. „Misstraue immer dem ersten Eindruck. Und dann …“ Er stieg aus, leicht und behäbig zugleich, ein hagerer alter Mann, verborgen in einem riesigen Stück Stoff, öffnete ihr die Tür und fuhr fort: „Und dann misstraue dem zweiten und dem dritten Eindruck.“
    Melanie stieg ebenfalls aus und nahm sich vor, seine Worte zu befolgen, aber es war leichter gesagt als getan.
    Der erste Eindruck war der eines sehr alten und vernachlässigten Gemäuers, umgeben von hohen Mauern, von Flechten und Moosen bewachsen. Einige der Fenster verfügten über Glasscheiben, andere waren nichts als dunkle Löcher in der Wand. Von den Glasfenstern waren manche zerbrochen, und Melanie sah dichte Spinnweben dort, staubig und grau, voll von toten Insekten, von denen die meisten sicher sinnlos ihr kleines Leben gelassen hatten, weil die Netze längst von den Jägern, die sie gewebt hatten, verlassen worden waren. Melanie hatte in ihrem Leben einige Klöster gesehen, und alle hatten sich durch peinliche Sauberkeit ausgezeichnet, auch wenn die Räumlichkeiten alt und einfach waren. Die Mönche, die hier lebten, schienen darauf keinen Wert zu legen.
    Und diesen wichtigen ersten Eindruck, der ihr so vieles zu verraten schien, sollte sie beiseiteschieben wie eine Sinnestäuschung? Wie bewerkstelligte man so etwas? Der Mensch war auf seine Wahrnehmungen angewiesen, um sich ein Bild von der Welt zu machen.
    In einem Tor, dessen rechter Flügel schief in den Angeln hing und sich wohl kaum mehr würde schließen lassen, stand ein Mönch. Er hatte seine rechte Hand vorgestreckt, und der Mann, der Melanie aus Falkengrund abgeholt hatte, fand diese Hand mit erstaunlicher Sicherheit, umfasste ihr Gelenk und schrieb einige Buchstaben oder Zeichen auf die Handfläche. Melanie beobachtete die Szene fasziniert. Hinter ihr fuhren die anderen beiden Wagen in den weiten Klosterhof ein, doch sie sah nicht hin, begnügte sich mit den Geräuschen.
    Waren mit Ausnahme der Fahrer alle hier blind und gehörlos? Auch die Kapuze des im Tor stehenden Mönchs war weit über seine Augen herabgezogen, zu weit, um ihn irgendetwas erkennen zu lassen. Oder war das eine Art Ritual? Gaben sie sich nur so, als würden sie nichts sehen und nichts hören? Gehörte das zu ihrem Glauben? Hatte der Mann nicht selbst gesagt, sie solle ihren ersten Eindrücken nicht trauen? War es das, was er sagen wollte?
    Der Mönch, der sie hergebracht hatte, verschwand nun mit gemächlichen Schritten im Inneren des Gebäudes, ohne sich von ihr zu verabschieden, der andere trat auf sie zu, hielt auch ihr seine Rechte entgegen. „Willkommen im Kloster“, sagte er, und seine Stimme klang erstaunlich ähnlich wie die seines Glaubensbruders. Man musste genau hinhören, um einen individuellen Unterschied herauszuhören – die hauchende, luftige Sprechweise (eine Art lautes Flüstern aus einer wie verengt wirkenden Kehle) dominierte seine Sprache.
    „Danke“, erwiderte Melanie. „Wie … heißt dieser Ort? Und wie darf ich Sie anreden?“
    Es erfolgte keine Antwort. Ihr Gegenüber hatte sie nicht verstanden – oder tat so, als hätte er sie nicht verstanden.
    Sie ging zu ihm hin und drückte ihm die Hand, so, wie man üblicherweise einen Menschen begrüßte. Der Mann in der Kutte zuckte ein wenig zusammen, streckte seine Linke aus, tastete damit nach ihrer linken Hand und führte sie an das Handgelenk seiner Rechten. Von ihrer rechten Hand suchte er den Ringfinger, spreizte ihre anderen Finger ab, bis es ein wenig schmerzte, und legte die Spitze ihres Ringfingers dann in die Mitte seiner Handfläche. Seine Haut fühlte sich hart und trocken an. Auch er war sehr alt, sein Kinn lang und schmal, tief gespalten und grobporig.
    „Wenn du eine Frage haben solltest, benütze diesen Finger und schreibe sie mir in die Hand. Ich werde sie verstehen“, sagte der Mönch.
    Melanie

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