Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid
zögerte lange, doch als er ihr Zögern als Schweigen interpretierte und sie ins Kloster führen wollte, malte sie ein paar Worte auf seine Haut. Sie benutzte ganz automatisch Großbuchstaben dafür.
WIE HEISST DIESER ORT?
Melanie, die noch nie jemandem Buchstaben auf die Hand gemalt hatte, hatte damit gerechnet, dass er sie nicht verstehen würde, und war erstaunt, als er ihr umgehend antwortete: „Dieses Kloster hat keinen Namen. Auch wir haben keine Namen. Du kannst ruhig schneller schreiben. Ich verstehe dich sehr gut.“
WARUM?, schrieb sie nach kurzen Pause und hoffte, dass klar war, worauf sie die Frage bezog.
Der Mönch hatte nicht die geringsten Schwierigkeiten damit, doch seine Antwort fiel orakelhaft aus. „Es gibt da einen, der nur einen Namen hat“, dozierte die pfeifende, hohle Stimme, „und der Name ist Er, und Er ist der Name. Dann gibt es einen, der hat viele Namen, und sie sind alle falsch. Wenn wir Menschen uns aber selbst einen Namen geben, dann haben wir schon zwei, denn jenen, den uns Gott gegeben hat, kennen wir nicht. Haben wir aber zwei Namen oder noch mehr, dann sind wir wie jener, der viele Namen hat. Und das wäre das letzte, was wir wollen.“ Langsam wandte er sich um, drehte sich einem dunklen, aber geräumigen Gang zu, der ins Innere des Gebäudes führte. „Wenn du dieses Haus betrittst, ist es gut, deinen Namen zu vergessen. Wenn du ihn nicht vergessen kannst, dann misstraue ihm zumindest. Es ist nicht dein wirklicher Name, soviel ist sicher.“
Sie ließen die Autos und ihre Fahrer hinter sich. Natürlich hätte sie noch manche Fragen auf dem Herzen gehabt, aber sie kam zu dem Schluss, dass es nicht gut war, zu viele davon auf einmal zu stellen. Die Antworten, die man ihr gab, brauchten Zeit, um von ihr erschlossen zu werden.
Zunächst begegneten sie niemandem. Der tunnelartige Korridor führte unmittelbar in den Kreuzgang. Das Bauwerk schien sehr alt zu sein, die dicken Mauern, die kleinen Fenster und die schlichten Rundbögen deuteten auf romanischen Stil hin. Die Mauern strahlten eine nahezu bedrohliche Kälte aus, selbst an diesem milden Herbsttag, als beherbergten sie einen Kern aus Eis. Durch die winzigen Fenster, die in den Innenhof wiesen, war eine Art Garten auszumachen, ein trostloses, heruntergekommenes Stück Land, voll wild wuchernder, verwelkter Pflanzen. Efeu legte sich wie ein Teppich über eine Hälfe dieses Gartens, kam zu mehreren Fensteröffnungen hereingekrochen und schickte sich an, auch die inneren Wände des Kreuzgangs zu erobern. Ein fäulnisartiger Geruch wehte aus dem Innenhof.
Ab und an führten Korridore nach außen in die einförmigen grauen Gebäude, die sich dort anschlossen. Melanie glaubte in den dunklen Räumen dahinter Bewegungen wahrzunehmen, schemenhaft und rot, wie von weiteren in Kutten gehüllten Gestalten. Irgendetwas an diesen Bewegungen machte, dass sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Vielleicht hatte es mit den schlechten Lichtverhältnissen zu tun, vielleicht damit, dass all diese Mönche ebenfalls blind sein mochten und sich anders bewegten als Sehende.
Die ganze Zeit über hielt sie die Hand des alten Mönchs. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich als Sehende von einem Blinden führen zu lassen. Einmal hatte sie versucht, sich von ihm zu lösen, doch sofort hatte er ihre Hand wieder an die seine geführt. „Wie fällt dein Eindruck von diesem Kloster aus“, fragte er plötzlich und blieb stehen, „nachdem du die ersten drei weggeworfen hast?“
Melanie zögerte und schrieb dann: SO WEIT BIN ICH NOCH NICHT.
„Das ist gut“, antwortete er und ging weiter. „Achte hier auf den Boden.“
Geschickt wich er einer Unebenheit im Fußboden aus. Eine der schweren Steinplatten lag in Splittern.
SIND SIE CHRISTEN?, versuchte sie einen dreisten Vorstoß.
„Die Bibel ist der einzig wahre Wegweiser zur Realität“, entgegnete der Mönch. Er führte sie aus dem Kreuzgang hinaus in einen der unbeleuchteten Räume, und während sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnten, lauschte sie seltsam berührt seiner leisen Stimme. „Was, denkst du, ist der wichtigste Satz in der Bibel?“
Melanie dachte eine Weile nach, konnte sich jedoch nicht entscheiden. Ihr fielen zuerst die Zehn Gebote ein, doch die hatte sie nie gemocht, weil es in ihrem Leben genügend „Du sollst nicht“ gab. ICH WEISS NICHT, schrieb sie deshalb.
Gleichmütig fuhr der Kuttenträger fort: „Das Johannes-Evangelium beginnt mit dem Satz ‚Im Anfang
Weitere Kostenlose Bücher