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Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Titel: Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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war das Wort’. Ist das nicht interessant? Ein Wort, nur ein Wort. Da ist nicht die Rede von Gottes Stimme oder davon, dass Gott etwas aufgeschrieben hat. Aber kann ein Wort alleine überhaupt bestehen? Ohne einen Laut, der es trägt, ohne eine Schrift, die es festhält? Gott beherrscht das Wort ohne Laut und Form, und damit hat er die ganze Welt geschaffen. Das ist sein Geheimnis. Der Satan“, er atmete tief ein und aus, „kennt viele Wörter, aber er braucht Stimmen, die sie aussprechen, Schriftzeichen, die sie festhalten. Er redet viel, schreibt viel. Mehr noch: Wo immer geredet und geschrieben wird, ist er anwesend. Auch jetzt. Hier.“
    Melanie starrte in die Finsternis, aus der sich erst allmählich Formen schälten. Die Worte des Mönchs hatten eine gewisse Spannung hinterlassen, die sich nach und nach in den deutlicher werdenden Konturen eines riesigen Wandgemäldes zu entladen begannen. Eine Bedrohung im Sinne der Präsenz einer teuflischen Macht empfand die Besucherin nicht, eher Neugier, was es war, das er ihr zeigen wollte.
    Ein modern wirkendes Gemälde aus zahlreichen weißen Linien war es, die insgesamt die Gestalt eines Menschen bildeten. Die Anordnung der Linien – die dickeren weiter innen, die dünneren davon abgehend und in feinen Spitzen auslaufend – erinnerte Melanie an Darstellungen, die sie in diversen Lexika gesehen hatte. Darstellungen vom menschlichen Nervensystem.
    „Auch Bilder sind Werke des Teufels“, erläuterte der Mann in der Kutte, „doch anfangs kommt man ohne sie nicht zurecht, so wie ich dir all das ohne Sprache nicht erklären könnte. Wenn wir fortschreiten, müssen wir uns von Bildern und Sprache trennen. Wir dürfen nichts mehr sagen, nichts mehr schreiben, nichts mehr malen. So nähern wir uns dem Wort, das nicht ausgesprochen und nicht geschrieben wird, das nur ist .“
    WAS BEDEUTET DAS NERVENSYSTEM?, erkundigte sich Melanie. Noch immer war sie nicht sicher, ob sich in diesem Raum jemand befand. Sie gab es auf, in die dunklen Ecken zu starren. Mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Interesse stellte sie sich unter das weiße Liniengeflecht und blickte daran empor. Sie erkannte das Rückenmark, die großen Nervenbahnen und ihre vielen Verästelungen.
    „Über die Nerven kommen unsere Wahrnehmungen in unseren Körper und damit die Lügen des Teufels. Die Sehnerven, Hörnerven, Geschmacksnerven, Geruchsnerven und die vielen Nerven unserer haptischen Empfindung tragen uns das Unwahre zu. Sogar die Schmerzen, die wir in unserem Körper spüren, sind nicht real. Daher ist es unsere Hauptaufgabe, die Wahrnehmungen einzuschränken.“
    UND DIE GEBETE?, wagte Melanie die Frage. SIE BETEN DOCH.
    „Was für einen Sinn hätte es, Gott in der Sprache des Teufels um etwas zu bitten oder ihn in der Sprache der Lüge zu preisen?“, lautete die Antwort. „Ist es da nicht besser, es gar nicht erst zu versuchen? Es gibt keinen ehrlichen Weg der Kommunikation. Nicht einmal die Bibel ist ganz und gar ehrlich. Denn sie benutzt die Schrift, und der Priester, der sie verliest, benutzt seine Stimme.“
    Melanie fiel auf, dass sie sich unter dem ungewöhnlichen Wandgemälde duckte, ohne es zu wollen. Die vielen feinen Nervenstränge schienen beim langen Hinsehen zu flattern wie die Wimpern der Pantoffeltierchen. Das Bild schien direkt auf das Mauerwerk gemalt zu sein, und mit etwas Fantasie konnte man sich vorstellen, eine seltsame Art primitiven Lebens wohne darin. Was auf den ersten Blick modern gewirkt hatte, mochte auch uralt sein – eine Art Höhlenmalerei …
    Ein kaum merkliches Ziehen entstand an ihrer Hand, und sie folgte ihm nur zu gerne. Zuerst traten sie wieder in den Kreuzgang hinaus, bogen jedoch gleich in den nächsten Raum wieder ein. Dunkel und leer präsentierte sich dieser, und obwohl Melanie Turnschuhe trug, hörte sie ihre Schritte von den Wänden widerhallen. An einer Stelle der dem Kreuzgang gegenüberliegenden Wand verdichtete sich die Finsternis zu einem Durchgang.
    „Treppen“, bemerkte der Mönch, und die junge Frau setzte achtsam einen Fuß vor den anderen. Stufen führten hinab, unter das Kloster.
    WOHIN GEHEN WIR?, erkundigte sich Melanie, nachdem sie auf der vierten oder fünften Stufe jäh verharrt war. Noch stahl sich ein schwacher Lichtschimmer her, doch wenn sie noch ein paar Stufen hinabsteigen würden, würde die Dunkelheit vollkommen sein. Vertrauen hin oder her – eine instinktive Vorsicht regte sich in ihr. Die Luft, die ihnen entgegenschlug,

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