Zimmer Nr. 10
ein Mann von der Spurensicherung war dort gewesen, aber es gab keine Spuren zu sichern. Ellen Börge hatte eine Nacht dort gewohnt, oder fast eine Nacht, und war mit dem ersten Morgenlicht verschwunden. Das war in der vergangenen Nacht gewesen. Niemand hatte sie das »Revy« verlassen sehen, nicht einmal der Portier. Sie hatte beim Einchecken bezahlt, das war so üblich in diesem Etablissement. Winter verstand, warum. Die meisten Gäste hielten sich nur eine Stunde im »Revy« auf, eine halbe Stunde. Er fragte sich, warum Ellen Börge sich für dieses Hotel entschieden hatte. Vielleicht eben aus diesem Grund. Niemand sah etwas, hörte etwas. Wer abhauen wollte, handelte richtig, wenn er sich für das »Revy« entschied. Einige Stunden nachdenken, falls möglich etwas ausruhen, eine Mütze voll Schlaf, und dann weg mit dem Morgenzug oder dem Bus, südwärts, ostwärts, nordwärts. Westwärts gab es nur das Meer, man musste ein Schiff nehmen, eine Fähre. Niemand wusste, in welche Himmelsrichtung Ellen Börge gefahren war, wenn sie gefahren war. Bis jetzt wollte noch kein Reisebüroangestellter ihr eine Fahrkarte verkauft haben.
Der Portier tauchte auf. Er erschien in einer Türöffnung, die im Dunkeln gelegen hatte wie alles andere in diesem Hotel. Es gab keine Tür, nur einen Vorhang. Der Mann gähnte wie nach einer Siesta. Bestimmt war es ein harter Job, Hotelangestellter zu sein, vor allen Dingen hier. Er war für die Zimmerschlüssel zuständig, und da war es vermutlich schwer, nachts ungestört zu schlafen.
Der Mann gähnte wieder, ohne auch nur zu versuchen, es zu verbergen. Er war ungefähr in Winters Alter, noch keine dreißig. Er trug einen Sakko wie Winter, mit dem Unterschied, dass dieser Kerl ihn auch als Pyjama benutzt hatte.
»Harter Tag?«, fragte Winter. »Vielmehr Nacht?«
»Äh … was?« Der Portier kratzte sich am Kopf. Seine Haare waren lang im Nacken und kurz über den Ohren. Er hätte Elvis sein können. Ein Eishockey spielender Elvis.
»Ich war gestern schon mal hier«, sagte Winter.
»Ja?«
»Wegen Ellen Börge.« Winter hielt seinen Ausweis hoch.
Der Portier studierte ihn mit kurzsichtigen Augen.
»Ich hab Sie nicht angetroffen«, fuhr Winter fort. »Ihr Kollege sagte mir, dass Sie jetzt hier sein würden. Sie hatten Dienst, als sie eincheckte.«
»Wer?«
Der Mann war noch nicht richtig wach. Vielleicht war er nie ganz wach.
»Ellen Börge. Sie haben sie um dreiundzwanzig Uhr dreißig eingetragen.«
»Mhm.«
»Sie erinnern sich?«
»Ich bin doch nicht blöd.«
»Das hat ja auch niemand gesagt.« Noch nicht, dachte Winter. Aber du bist ein zäher Brocken. Das ist nicht das erste Mal, dass du mit der Polizei zu tun hast. Hier gehen dauernd Polizisten ein und aus. Du hast sie satt. Uns satt.
»Ihr Kollege hat uns das Gästebuch gezeigt. Dort stand ihr Name. Könnten Sie es bitte noch einmal herholen?«
»Ich erinnere mich an sie«, sagte der Portier, ohne sich zu rühren. »Börge. Ich hab den Namen noch mal überprüft, als sie raufgegangen ist. Klingt wie ein Jungenname, nicht?«
»Überprüfen Sie immer die Namen der Leute, die sich hier eintragen?«
»Äh … nein. Aber … sie kam allein.«
»Und sie sah nicht aus wie eine Hure? Meinen Sie das?«
Der Portier schaute betreten auf den Tresen, als schämte er sich plötzlich für dieses Hotel. Er sah auf. »Sie hatte kein Gepäck dabei, nur eine Handtasche.« Er zeigte auf den Tresen. »Die hat sie da hingelegt, während sie sich eintrug. Und als sie nach oben ging, fiel mir auf, dass sie kein Gepäck dabeihatte.«
»Beschreiben Sie die Handtasche«, sagte Winter.
»Tja … schwarz.«
»Schwarz? Ist das alles, an was Sie sich erinnern?«
»Ja … und klein. Mit einem Riemen. Wie Damenhandtaschen eben aussehen. Ich kann die nicht auseinander halten.«
Er schaute zur Treppe, als müsste Ellen Börge dort auftauchen. »Sie kam mir vor, als wäre sie irgendwohin unterwegs. Ich erinnere mich, dass ich das gedacht habe. Das Hotel liegt ja nah beim Bahnhof, und wir haben viele Gäste, die das erstbeste Zimmer nehmen, bevor sie weiterfahren. Auf der Durchreise. Ich hab Übung darin, Leuten anzusehen, ob sie irgendwohin unterwegs sind.«
»Und so wirkte sie?«
»So kam es mir vor.«
»Sie ist ja auch weggegangen.«
»Ich verstehe.«
»Irgendwann in der Nacht oder am frühen Morgen.«
»Das haben Sie gesagt.«
»Glauben Sie das nicht?«
»Ich glaube nichts. Ich weiß nichts. Ich war nicht hier. Hatte um halb zwölf
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