Zimmer Nr. 10
gesagt?«
»Sie hatte keinen Grund.« Börges Stimme war leise, es schwang etwas mit, das Winter bekannt vorkam, ein anderer Ton.
»Was meinen Sie?«
»Das, was ich sage.« Börge starrte Winter in die Augen.
»Sie hatte keinen Grund, sich in diesem Hotel ein Zimmer zu nehmen, nicht mal für ein paar Stunden. Oder irgendwo anders. Sie muss krank geworden sein. Hier ist ihr Zuhause.«
Er schaute sich um, in dem Zuhause. »Hier gehörte sie her.«
Er starrte Winter wieder eindringlich an. »Hier gehörte sie her.«
Der redet ja, als ob sie nie wieder nach Hause kommt, dachte Winter. Und in diesem Augenblick, auf diesem weichen Sofa, als die Sonne plötzlich hinter einer Wolke verschwand und alles dunkel wurde, dunkel wie die Lobby des Hotel »Revy«, glaubte Winter, dass Christer und Ellen Börge einander das letzte Mal gesehen hatten.
7
Jetzt war die Markise über der Treppe blau. Es war windstill, es regnete nicht. Die Treppe war trocken. Vertikale Risse liefen durch die Stufen, ein Flusssystem ohne Delta.
Winter stieg die Treppe hinauf. Er bemerkte die Risse, durch die Gras aus der Unterwelt heraufwuchs. Die dritte Welt, dachte er. Es geht schnell, wenn es erst mal bergab geht. Dann findet ein Ausgleich statt. Auf beiden Seiten des Äquators geht es zum Teufel.
Er war allein in der Lobby. Von irgendwo ertönte Musik, vielleicht ein Radio. Nichts sagende Musik. Es klang, als würde nie jemand zuhören.
Er trat an den Tresen und sah sich um. Die Musik hatte wieder eingesetzt, ein leises Summen. Er erinnerte sich. Es war fast zwanzig Jahre her, aber nichts hatte sich verändert. Sein Gefühl eines Déjà-vu stimmte so nicht. Es war Wirklichkeit. Eigentlich passiert in zwanzig Jahren gar nichts, alles wiederholt sich.
Hinter dem Tresen tauchte der Portier auf. Er kam durch eine Türöffnung, die im Dunkeln verborgen gewesen war, wie alles hier. Es gab keine Tür, nur einen Vorhang.
Winter erkannte ihn sofort wieder.
Der Portier erkannte Winter auch sofort wieder. Winter sah es an seinen Augen. Sie leuchteten für den Bruchteil von Sekunden wie eine Taschenlampe in der Lobby auf.
Der Portier sagte nichts, aber sein Blick glitt zur Treppe und in Gedanken die Treppe hinauf, durch den Korridor, zum Zimmer Nummer 10. Das Zimmer war noch immer versiegelt, die ganze Etage abgesperrt.
Dieser Mann musste einige Tage freigehabt haben. Bei der ersten Ermittlung war Winter ihm nicht begegnet. Aber noch verhörte er die Portiers nicht. Wie hieß dieser? Winter hatte seinen Namen vergessen. Er hatte den Namen gelesen, aber vergessen, seltsamerweise. Der Name dieses Burschen befand sich in Paulas Akte wie die aller anderen Angestellten des »Revy«. Also war sein Name im Abstand von zwanzig Jahren in zwei Akten erfaßt. Er wirkte nicht zwanzig Jahre älter. Die Frisur war eine andere. In der hier herrschenden Dunkelheit bewegte sich die Zeit langsamer. Draußen im Licht, vor der Markise, alterte alles rascher. Aber der Portier hatte Winter wieder erkannt. Salko. Er hieß Salko. Richard Salko.
»Lange nicht gesehen«, sagte Richard Salko.
»Sie erkennen mich also wieder?«
»Genau wie Sie mich wieder erkannt haben.«
»Die Jahre sind offenbar nachsichtig mit uns umgegangen«, sagte Winter.
»Hängt vom Ausgangsmaterial ab«, sagte Salko. »Was man am Anfang mitbekommen hat.« Sein Blick glitt wieder die Treppe hinauf und zurück. »Schreckliche Sache«, fuhr er fort. »Wie konnte das passieren?«
Winter schwieg.
»Ich war nicht hier«, sagte Salko. »Ich war krank.«
»Ich weiß.«
»Ich kann also mit meiner Aussage nichts beitragen.«
»Was war das für eine Krankheit?«
»Migräne. Die hab ich manchmal über mehrere Tage, hin und wieder sogar eine Woche.«
Winter nickte.
»Mein Arzt hat mir Medikamente verschrieben.«
»Ich glaube Ihnen«, sagte Winter.
»Als es … passiert ist, war ich zu Hause.«
Winter hielt ein Foto hoch. »Schon mal gesehen?«
Salko studierte Paulas Gesicht. »Das ist nicht das Bild aus der Zeitung.«
»Nein.«
»Hier sieht sie ja ganz anders aus.«
»Darum zeige ich es Ihnen.«
»Nein.« Salko schüttelte den Kopf. »Ich bin der Frau noch nie begegnet.«
»Sie ist nie hier gewesen?«
»Soweit ich weiß nicht.«
»Keiner Ihrer Kollegen kennt sie.«
Salko zuckte mit den Schultern.
»Trotzdem hat sie sich für dieses Hotel entschieden«, sagte Winter.
»Wirklich?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie hat sich entschieden?«
Winter antwortete nicht.
Wieder zuckte Salko mit
Weitere Kostenlose Bücher