Zimmer Nr. 10
wir zuweilen jedes Mal eine andere Antwort bekommen.
Nina Lorrinder hob ihre Tasse an, ohne zu trinken. Sie stellte sie wieder ab und schaute zur Tür, als könnte Paula Ney jeden Moment hereinkommen. Dann sah sie Aneta Djanali an, als säße Paula an ihrem Platz.
Sie begann zu weinen.
»Wir gehen woandershin«, sagte Aneta Djanali.
*
In einem französischen Café weiter südlich auf der Straße wiederholte Aneta Djanali die Frage.
»Ungefähr eine Stunde.«
»Wie spät war es, als Sie sich getrennt haben?«
»Ungefähr zehn.«
»Haben Sie sich vor dem Pub getrennt?«
»Ich bin mit ihr zum Grönsakstorget gegangen. Dort wollte sie eine Straßenbahn nehmen. Die Eins.« Nina Lorrinder zuckte zusammen, als draußen eine Straßenbahn vorbeirasselte. Die Tür zur Straße stand offen. Es war ein warmer Abend, ein Altweibersommerabend. »Aber das wissen Sie ja.«
»Haben Sie gewartet, bis sie eingestiegen ist?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Meine eigene Bahn tauchte auf, die Drei.«
»Warum sind Sie nicht an der Haltestelle bei der Domkirche eingestiegen?«
»Tja … Wir wollten noch ein Stück gehen.«
»Sie sind also in die Drei gestiegen, während Paula auf die Eins wartete?«
»Ja.« Nina Lorrinder war sehr blass im Licht des Cafés, einer fahlen Mischung aus Kunstlicht und Herbstsonne.
»Hätte ich das nicht tun sollen?«
Aneta Djanali sah Tränen in ihren Augen.
»Hätte ich bleiben sollen?« Nina Lorrinder wischte sich über die Augen, aber der Tränenschleier war geblieben, als sie die Hand wegnahm. Sie schluchzte auf. »Ich muss ständig daran denken. Wäre ich nicht abgefahren, wäre es vielleicht nicht passiert.« Sie sah Aneta Djanali mit ihren glasigen Augen an.
»Verstehen Sie? Wenn ich nur geblieben wäre.«
»Sie haben keinen Grund, sich Vorwürfe zu machen«, sagte Aneta Djanali.
»Ich konnte es doch nicht ahnen! Wie soll man so was ahnen?«
Aneta hob ihre Tasse und trank von dem neuen Tee. In diesem Moment hätte sie lieber ein Glas Wein oder einen Whisky gehabt. Nina Lorrinder sah aus, als könnte sie einen Whisky gebrauchen. Sie könnten später in eine Bar gehen. Aneta könnte Nina Lorrinder einladen. Sie hatte sich Nina trotz ihrer Trauer aufgedrängt.
»Niemand von uns hätte es wissen können«, sagte Aneta Djanali.
»Wie konnte das passieren?« Nina Lorrinder sah Aneta Djanali an, als müsste sie die Antwort wissen. »Warum?«
»Das versuchen wir herauszufinden.«
»Geht das?« Nina Lorrinder unterstrich die Frage automatisch mit einer Handbewegung. »Wie kann man denn eine Antwort auf so was finden?«
Was sollte sie sagen? Es gab tausend Antworten, aber vielleicht war keine davon die richtige. Es gab tausend Fragen.
»Unter anderem dadurch, dass wir mit allen sprechen, die Paula gekannt haben«, sagte Aneta Djanali schließlich. »Was wir gerade machen, Sie und ich.«
»Sie hatte nicht viele Bekannte«, sagte Nina Lorrinder.
Aneta Djanali schwieg, wartete.
»Sie war nicht gerade … wie soll ich es formulieren … ein geselliger Typ.« Nina Lorrinder machte wieder diese Handbewegung, als sei diese mit ihrer Stimme verbunden. »Sie blieb am liebsten für sich. Verstehen Sie? Paula mochte keine Vereinsmeierei, keine Menschenansammlungen. Sie mochte nicht im Mittelpunkt stehen.«
»Was mochte sie denn? Was machte sie am liebsten?«
»Ich … weiß es nicht.«
»Haben Sie nie darüber gesprochen?«
Nina Lorrinder antwortete nicht gleich. Aneta Djanali ließ sie nachdenken, sie sah aus, als dächte sie nach.
»Sie wollte irgendwohin«, sagte Nina Lorrinder schließlich.
»Wohin wollte Sie?«
»Wohin? Falls Sie einen Ort oder ein Land meinen, dann hat sie das nie erzählt.«
»Aber Sie wissen, dass sie wegwollte?«
»Ja … es ist schwer zu erklären … Manchmal schien sie auch so woanders zu sein. Sie war nicht hier. Verstehen Sie? Sie war hier, aber gleichzeitig war sie woanders, dort, wo sie am liebsten gewesen wäre.«
»Und sie hat nie von diesem Ort gesprochen? Wo sie am liebsten sein wollte?«
»Ich weiß nicht einmal, ob es ein Ort war«, sagte Nina Lorrinder. »Ich weiß nicht einmal, ob sie es selber wusste.«
Eine junge Frau betrat das Café von der hellen Straße aus und sah sich nach einem freien Tisch um. Es gab mehrere. Sie belegte einen Tisch an der Wand mit ihrem langen Schal, ging wieder hinaus und hielt einem jungen Mann die Tür auf, der einen Buggy schob und ihn neben dem Tisch am Fenster abstellte. Ein etwa zweijähriges Kind schlief in
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