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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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und Tücke
jener Zeit, in der sich Indien und Pakistan im Krieg befanden, auf eine harte Probe
gestellt wurde. Wie kamen Julia und ihre Freunde darauf, daß sich Farrokh mit diesem
Autor unterhalten könnte? Was wußte Dr. Daruwalla denn schon von einer echten Parsengemeinde
– egal ob in Bombay oder in Toronto? Über welche »Gemeinde« durfte sich der Doktor
anmaßen zu reden?
    Farrokh konnte nur
Geschichten aus dem Duckworth Club erzählen – über Lady Duckworth, die sich entblößte
und ihre berühmten Brüste enthüllte. Man brauchte kein Duckworthianer zu sein, um
die Geschichte bereits zu kennen, aber welche Geschichten kannte Dr. Daruwalla sonst
noch? Nur seine eigene Geschichte, die sich eindeutig nicht für neue [963]  Bekanntschaften
eignete: Geschlechtsumwandlung und Massenmorde; eine Bekehrung aufgrund eines Liebesbisses;
die verlorenen Kinder, die trotz allem nicht vom Zirkus gerettet wurden; Farrokhs
Vater, den es in Stücke zerfetzt hatte… Und wie hätte er mit völlig fremden Leuten
über die Zwillinge reden sollen?
    Dr. Daruwalla hatte
den Eindruck, als sei seine Geschichte das Gegenteil von allgemeingültig; seine
Geschichte war schlicht eigenartig – und er selbst fühlte sich sonderbar fremd.
Wohin Farrokh auch ging, überall begegnete ihm eine immerwährende Fremdheit – ein
Widerschein jener Fremdheit, die er in sich trug, in seinem tiefsten, eigentümlichen
Innern. Und so stand, während es ringsum schneite, ein Bombayer in Forest Hill und
wartete auf seine Wiener Frau, um mit ihr in die Innenstadt von Toronto zu fahren,
wo sie der Lesung eines unbekannten Inders lauschen würden – vielleicht einem Sikh,
möglicherweise einem Hindu, vielleicht einem Muslim oder gar einem Parsen. Wahrscheinlich
würden auch noch andere Autoren lesen.
    Auf der anderen
Seite der Russell Hill Road legte sich der nasse Schnee auf Schultern und Haare
einer Mutter und ihres kleinen Sohnes. Wie Dr. Daruwalla standen die beiden unter
einer Straßenlaterne, deren strahlendes Licht die Schneeflocken glitzern ließ und
ihren wachsamen Gesichtszügen deutliche Konturen verlieh. Auch sie schienen auf
jemanden zu warten; der kleine Junge wirkte weitaus ungeduldiger als seine Mutter.
    Er hatte den Kopf
in den Nacken gelegt und streckte die Zunge heraus, um Schneeflocken aufzufangen;
verträumt schlenkerte er den Arm seiner Mutter hin und her, während sie seine Hand
fest umklammert hielt, als würde sie ihr sonst entgleiten. Ab und zu riß sie an
seinem Arm, damit er zu schlenkern aufhörte, aber das hielt er nie lange aus. Und
nichts konnte den Jungen dazu bewegen, seine Zunge zurückzuziehen; sie blieb draußen
und fing die Schneeflocken auf.
    [964]  Als Orthopäde
mißfiel Dr. Daruwalla die Art und Weise, wie die Mutter an dem völlig entspannten,
schlaff herabhängenden Arm ihres Sohnes riß. Der Doktor hatte Angst um den Ellbogen
und die Schulter des Kindes. Doch die Mutter hatte nicht die Absicht, ihrem Kind
weh zu tun; sie war nur ungeduldig, und es war ihr lästig, wie der Junge an ihrem
Arm hing.
    Einen Augenblick
lang lächelte Dr. Daruwalla diese Madonna mit Kind ungeniert an. Die beiden standen
so gut beleuchtet an ihrem Laternenpfahl, daß dem Doktor hätte klar sein müssen,
daß sie ihn, ebenso deutlich, unter seinem stehen sahen. Aber Farrokh hatte vergessen,
wo er war – daß er nicht in Indien war –, und nicht bedacht, daß seine Hautfarbe
womöglich Argwohn bei der Frau weckte, die auf das unbekannte Gesicht im Schein
der Straßenlampe jetzt so reagierte, wie sie auf einen plötzlich auftauchenden,
frei laufenden, großen Hund reagiert hätte. Warum lächelte dieser Fremde sie an?
    Die offensichtliche
Angst der Frau kränkte und beschämte Dr. Daruwalla; er hörte auf der Stelle zu lächeln
auf und sah weg. Dann wurde ihm klar, daß er an der falschen Ecke stand. Julia hatte
ihn unmißverständlich gebeten, an der Nordwestecke der Kreuzung zu warten, genau
dort, wo die Mutter mit ihrem Sohn stand. Farrokh wußte, daß die Frau wahrscheinlich
in Panik geraten würde – bestenfalls wäre sie tief beunruhigt –, wenn er die Straße
überqueren und sich neben sie stellen würde; schlimmstenfalls würde sie sogar um
Hilfe rufen. Es würden Anschuldigungen fallen, die die Anwohner auf den Plan rufen
würden – gut denkbar, daß sogar jemand die Polizei alarmierte!
    So kam es, daß Dr.
Daruwalla die Russell Hill Road recht unbeholfen überquerte, sich mit gesenktem
Kopf verstohlen

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