Zirkuskind
hinüberschlich, was die Frau zweifellos noch in ihrem Verdacht bestärkte,
daß er etwas im Schilde führte. Als sich Farrokh so über die Straße stahl, sah er
aus, als steckte er voller verbrecherischer Absichten. Rasch ging er an der Frau
und dem Kind vorbei und [965] hastete, ohne zu grüßen, weiter – denn er war überzeugt,
daß ein Gruß die Frau derart aufscheuchen würde, daß sie sich womöglich kopflos
in den Verkehr stürzte (auch wenn kaum Verkehr war). Dr. Daruwalla stellte sich
zehn Meter von der Stelle entfernt hin, an der Julia ihn auflesen würde. Da stand
er nun, wie ein Perverser, der all seinen Mut für einen feigen Vorstoß zusammennimmt.
Es war ihm bewußt, daß die Straßenbeleuchtung kaum bis an den Randstein reichte,
wo er wartete.
Die Mutter, mittelgroß
und mittelschlank – und inzwischen völlig verängstigt –, begann auf und ab zu gehen,
wobei sie ihren kleinen Sohn hinter sich her schleifte. Sie war eine gut gekleidete
junge Frau Mitte Zwanzig, doch weder ihre Kleidung noch ihre Jugend konnten darüber
hinwegtäuschen, daß sie gegen ihr wachsendes Entsetzen ankämpfte. Aus ihrem Gesichtsausdruck
schloß Dr. Daruwalla eindeutig, daß sie seine abscheulichen Absichten zu durchschauen
glaubte. Unter seinem scheinbar geschmackvollen schwarzen Wollmantel mit dem schwarzen
Samtkragen und schwarzsamtenen Ärmelaufschlägen lauerte gewiß ein nackter Mann,
der es kaum erwarten konnte, sich vor ihr und ihrem Kind zur Schau zu stellen. Die
Mutter wandte der verwerflichen Gestalt den Rücken zu, aber der kleine Junge hatte
den Fremden ebenfalls bemerkt. Er hatte keine Angst – er war nur neugierig. Er zerrte
weiter am Arm seiner aufgewühlten Mutter und streckte die kleine Zunge den Schneeflocken
entgegen, ohne den Blick von dem exotischen Ausländer abzuwenden.
Dr. Daruwalla versuchte
sich auf den Schnee zu konzentrieren. Spontan streckte er ebenfalls die Zunge heraus;
es war ein Reflex – seit Jahren war es ihm nicht in den Sinn gekommen, jemandem
die Zunge herauszustrecken. Aber die junge Mutter schloß daraus bestimmt, daß der
Fremde total verrückt war. Die Zunge hing ihm schlaff aus dem Mund, und seine Augen
blinzelten, während ihm Schneeflocken auf die Wimpern fielen.
[966] Farrokh selbst
hatte das Gefühl, daß seine Augenlider schwer waren; auf den oberflächlichen Betrachter
wirkten sie geschwollen – sein Alter, die Erschöpfung, der jahrelange Konsum von
Bier und Wein. Aber dieser jungen Mutter in ihrer zunehmenden Panik müssen sie vorgekommen
sein wie die Augenlider des dämonischen Orients; im schwachen Schein der Straßenlaterne
wirkten Dr. Daruwallas Augen wie die tückischen Schlitze einer Schlange.
Doch der kleine
Junge hatte keine Angst vor dem Fremden; ihre Zungen, auf denen der Schnee schmolz,
schienen sie zu verbinden. Diese Gemeinsamkeit wirkte sich unmittelbar auf das Verhalten
des kleinen Jungen aus. Farrokh hatte mit seiner kindischen, unbewußten Geste offenbar
das natürliche Tabu, mit Fremden zu reden, außer Kraft gesetzt, denn plötzlich riß
sich der Junge von seiner Mutter los und lief mit ausgestreckten Armen auf den erstaunten
Inder zu.
Die Mutter war zu
erschrocken, um ihren Sohn laut und vernehmlich zurückzurufen. Sie brachte nur ein
gurgelndes Geräusch hervor, ein ersticktes Keuchen. Sie zögerte, bevor sie hinter
ihrem Sohn hertaumelte, als wären ihre Beine zu Eis oder Stein erstarrt. Wie es
schien, hatte sie sich in ihr Schicksal ergeben; sie wußte nur zu gut, was als nächstes
passieren würde! Der schwarze Mantel würde sich auftun, sobald sie sich dem Fremden
näherte, und sie würde den männlichen Genitalien des wahrhaft unergründlichen Orients
gegenüberstehen.
Um sie nicht noch
mehr zu erschrecken, tat Dr. Daruwalla so, als würde er gar nicht merken, daß das
Kind auf ihn zurannte. Er konnte sich vorstellen, daß die Mutter dachte: O Gott,
wie heimtückisch diese perversen Kerle sind! Vor allem die »farbigen« unter uns,
dachte der Doktor erbittert. Das war genau die Situation, die Ausländer (vor allem
»Farbige«) fürchten gelernt haben. Es passierte absolut nichts, und trotzdem war
die junge Frau überzeugt, daß sie und ihr Sohn sich an der [967] Schwelle zu einem
schockierenden Vorfall befanden, der womöglich unauslöschliche Spuren hinterließ.
Um ein Haar hätte
Farrokh gerufen: Entschuldigen Sie, hübsche Frau, aber Sie brauchen keinen Vorfall
zu befürchten! Er wäre davongelaufen, hätte er nicht
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