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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Indien. Es ist jedoch ein Roman, der in Indien
spielt – eine Geschichte über einen Inder (aber eben doch keinen Inder), für den
Indien immer ein unbekanntes und unergründliches Land bleiben wird. Wenn es mir
gelungen ist, die Details richtig hinzubekommen, verdanke ich das meinen indischen
Freunden.
    J. I.

[17]  1
    Die Krähe auf dem Deckenventilator
    Zwergenblut
    Normalerweise
sorgten die Zwerge dafür, daß er immer wieder zurückkam – zurück zum Zirkus und
zurück nach Indien. Inzwischen kannte der Doktor das Gefühl, Bombay immer wieder
»endgültig« zu verlassen; fast jedes Mal, wenn er abreiste, schwor er sich, nie
mehr nach Indien zurückzukehren. Dann vergingen ein paar Jahre – grundsätzlich nie
mehr als vier oder fünf –, und irgendwann nahm er wieder den langen Flug von Toronto
nach Indien auf sich. Daß er in Bombay geboren war, war nicht der Grund; wenigstens
behauptete er das. Seine Eltern waren beide tot. Seine Schwester lebte in London,
sein Bruder in Zürich. Die Frau des Doktors war Österreicherin, ihre Kinder und
Enkelkinder waren in England und Kanada zu Hause. Keines wollte in Indien leben
– sie kamen auch nur selten zu Besuch dorthin –, und nicht ein einziges war dort
geboren. Dem Doktor jedoch war es vom Schicksal bestimmt, nach Bombay zurückzukehren.
Er würde immer und immer wieder herkommen – wenn nicht bis an sein Lebensende, dann
zumindest so lange, wie es im Zirkus Zwerge gab.
    Die meisten Zirkusclowns
in Indien sind chondrodystrophe Zwerge. Sie werden oft als Zirkusliliputaner bezeichnet,
sind aber keine richtigen Liliputaner, sondern Zwerge. Chondrodystrophie ist die
häufigste Erscheinungsform von Minderwuchs mit verkürzten Extremitäten. Ein chondrodystropher
Zwerg kann normalgewachsene Eltern haben, doch die Wahrscheinlichkeit, daß seine
eigenen Kinder Zwerge sind, beträgt fünfzig [18]  Prozent. Diese Form des Zwergwuchses
ist in vielen Fällen das Ergebnis einer seltenen genetischen Veränderung, einer
Spontanmutation, die bei den Kindern des Zwergs dann zu einem dominanten Merkmal
wird. Bisher hat man noch keinen genetischen Marker für dieses Merkmal entdeckt,
und keine Koryphäe auf dem Gebiet der Genetik macht sich die Mühe, nach einem solchen
Marker zu suchen.
    Sehr wahrscheinlich
hatte Dr. Farrokh Daruwalla als einziger die abwegige Idee, einen genetischen Marker
für diese Art von Zwergwuchs zu suchen. Da es sein sehnlichster Wunsch war, einen
solchen zu entdecken, mußte er notgedrungen Blutproben von Zwergen sammeln. Daß
es sich um ein sonderbares Vorhaben handelte, war klar: Immerhin war Dr. Daruwalla
ein orthopädischer Chirurg, und vom orthopädischen Standpunkt aus war sein Zwergenblut-Projekt
uninteressant. Genetik war nur eines seiner Hobbys. Doch trotz seiner seltenen und
stets kurzen Besuche in Bombay hatte kein Mensch in Indien jemals so vielen Zwergen
Blut abgenommen; niemand hatte so viele Zwerge angezapft wie Dr. Daruwalla. So kam
es, daß er in den indischen Zirkussen, die durch Bombay kamen oder auch in kleineren
Städten in Gujarat und Maharashtra gastierten, liebevoll »der Vampir« genannt wurde.
    Natürlich hat ein
Arzt mit Dr. Daruwallas Spezialgebiet in Indien ohnehin häufig mit Zwergen zu tun,
da diese zumeist unter chronischen orthopädischen Beschwerden leiden – schmerzenden
Knie- und Fußgelenken, von Kreuzschmerzen ganz zu schweigen. Die Symptome verstärken
sich mit zunehmendem Alter und Gewicht; je älter und schwerer ein Zwerg wird, desto
mehr strahlt der Schmerz ins Gesäß, in die Rückseite der Oberschenkel und in die
Waden aus.
    In der Kinderklinik
in Toronto bekam Dr. Daruwalla sehr wenige Zwerge zu sehen; in der Klinik für Verkrüppelte
Kinder in Bombay jedoch – wo er von Zeit zu Zeit, bei seinen sich [19]  wiederholenden
Besuchen, unentgeltlich als chirurgischer Konsiliar arbeitete – hatte er viele zwergwüchsige
Patienten. Doch obwohl sie ihm ihre Familiengeschichten erzählten, wollten sie ihm
nicht ohne weiteres ihr Blut geben. Und ihnen gegen ihren Willen Blut abzunehmen
hätte Farrokhs Berufsethos widersprochen. Bei der Mehrheit der orthopädischen Beschwerden,
die bei chondrodystrophen Zwergen auftreten, erübrigen sich Blutuntersuchungen.
Folglich war es nur recht und billig, daß der Doktor den wissenschaftlichen Aspekt
seines Forschungsprojekts erklärte und diese Zwerge um ihr Blut bat. Fast immer
verweigerten sie es ihm.
    Ein typischer Fall
war Dr. Daruwallas bester zwergwüchsiger

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