Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
Vom Netzwerk:
Klavier, das bei einem Nachbarn im Schuppen stand und auf dem er spielen durfte. Und ein alter Organist, der ihm seine Noten lieh und ihm das eine oder andere erklärte, wenn Anselm dafür hin und wieder im Gottesdienst orgelte.
    »Lebt deine Mutter noch?«, fragte Mira, während vor ihnen der Zirkus auftauchte. Bunte Fähnchen schwebten in der dämmrigen Luft über den Zelten. Sie hatte plötzlich den Geruch von nassem Sägemehl und wilden Tieren in der Nase, aber das war Unsinn, dafür waren sie noch viel zu weit entfernt.
    »Ja« sagte Anselm. Mehr sagte er nicht, und sie verstand sofort, dass er nicht darüber reden wollte. Sie schob ihren Arm fester in seinen, weil sie merkte, dass er von ihr wegdrängte. Das Gefühl war ihr so vertraut, dass man auf und davon wollte, wenn man über etwas reden sollte, das einem widerstrebte. Vielleicht habe ich mich deshalb in Anselm verliebt, dachte sie, weil es ihm genauso geht wie mir. Und weil er niemals in mich eindringt. Er ist nicht wie Otto, der ständig versucht, hinter mein Geheimnis zu kommen. Anselm nimmt mich, wie ich bin, es interessiert ihn nicht, was hinter mir liegt.
    »Und du?«, fragte Anselm. »Bist du gerne in den Zirkus gegangen als Kind?«
    Sie lachte. »Welches Kind geht nicht gern in den Zirkus?«, antwortete sie ihm dann mit seinen eigenen Worten. Er weiß nicht das Geringste von mir, dachte sie. Und es ist gut so. Was vorbei ist, ist vorbei.
     
    Der Zirkus war klein und schäbig, ein windschiefes Hauptzelt, um das sich ängstlich und armselig eine Handvoll winziger Zelte und Wohnwagen drängte. Zirkus Eltinger verkündeten die roten, weißen und gelben Glühbirnen über dem Eingang zur Manege. Man konnte es aber in der Dunkelheit kaum lesen, weil nur jede dritte Lampe brannte. Unser Zirkus war viel größer, dachte Mira. Aber vielleicht täuschte sie sich ja auch, in der Erinnerung wuchsen die Dinge immer ins Unermessliche, im Guten wie im Schlechten. Eine dicke Frau mit dunklem Schnurrbart verkaufte die Eintrittskarten.
    »Vorstellung oder Menagerie?«, fragte sie mürrisch, als Mira und Anselm vor ihren Tisch traten.
    »Nur zur Vorstellung«, sagte Anselm.
    »Es ist aber noch eine halbe Stunde hin«, meinte sie, während sie ihnen ihre Karten gab.
    Drinnen war noch alles leer. Anselm wollte gleich in die erste Reihe, aber Mira wehrte erschrocken ab. »Das ist verkehrt im Zirkus. Die Clowns suchen sich ihre Opfer meist unter den Zuschauern in der ersten Reihe aus.« Sie wollte sehen, nichtgesehen werden. Obwohl sie ohnehin keiner wiedererkennen würde, sie war ja damals noch ein kleines Kind gewesen.
    Sie setzten sich in also in die vierte Reihe und unterhielten sich über die Versammlung, die am letzten Wochenende stattgefunden hatte, über die Verhältnisse, die immer ungerechter wurden, den Reichtum, der ins Unermessliche stieg, die Armen, die mehr und mehr verelendeten. Es war keine richtige Unterhaltung, es war eher so, dass Anselm redete und Mira zuhörte oder zumindest so tat, als ob sie zuhörte. In Wirklichkeit suchten ihre Augen die Sitzreihen ab, die sich langsam zu füllen begannen. Wenn nur ihre Mutter nicht kam und sie hier fand, zusammen mit Anselm, den Mira ihr immer noch nicht vorgestellt hatte.
    Aber ihre Mutter kam nicht. Es kamen überhaupt nur sehr wenige Besucher, dafür dass es ein Samstagabend war. Als das Zelt etwa zu einem Viertel gefüllt war, spielte die Vier-Mann-Kapelle über der Manege einen Tusch, dann betrat der Direktor die Manege.
    Es war ein armseliger Zirkus, und es war eine armselige Vorstellung. Ein paar Clowns, die sich gegenseitig Wasser ins Gesicht spritzten und über ihre großen Schuhe stolperten. Liliputaner auf Fahrrädern, deren Gesichter Mira nicht kannte. Ein Mann in einer roten Uniform, der einen müden Löwen rund um die Manege jagte und am Schluss durch einen brennenden Reifen springen ließ. Der Löwe verweigerte den Sprung viermal, erst als ihm der Dompteur mit der Peitsche eins überzog, machte er einen gelangweilten Satz, aber auf der anderen Seite setzte er sich sofort wieder hin und leckte seine Pfoten.
    Dann kamen die Seiltänzer. Eva, dachte Mira, Vanja. Sie setzte sich ganz aufrecht hin und starrte auf die schlanken Menschen in ihren eng anliegenden Trikots, die mit einem Einrad über das Seil jagten, jung und kraftvoll. Vanja und Eva und die anderen wären heute so alt wie ihre Mutter. Zu alt für einen Hochseilakt. Die Artisten waren Fremde. Sie war vollkommen umsonst hierher

Weitere Kostenlose Bücher