Zitronen im Mondschein
klein«, hatte Mirko gesagt, »Aber ich bin zehn Mal so schnell und wendig wie die anderen. Das allein zählt.«
Dann hatte er ihr gezeigt, wie man sich verteidigt, wenn man angegriffen wird. »Übung ist die Hauptsache«, erklärte er ihr. »Du musst dich auf deinen Körper verlassen können, sonst kannst du dich nicht wehren. Schau es dir von den Seiltänzern ab, sie trainieren auch jeden Tag.« Wochenlang, monatelang hatten sie miteinander geübt, einen ganzen Frühling und einen Sommer und einen Herbst und einen Winter lang, bis die Äste der Obstbäume mit dickem weißen Schnee bedeckt waren und er sie im Stich gelassen hatte, genau wie ihre Mutter sie im Stich gelassen hatte. »Mach weiter!«, hatte er ihr gesagt, einen Tag, bevor er sie für immer verlassen hatte. »Lass dir nichts gefallen!«
Aber auf die Angriffe, die dann kamen, war sie nicht vorbereitet. Ihren Körper hätte sie unter Umständen einigermaßen verteidigen können, doch ihre Seele war vollkommen schutzlos.
Mira starrte Mirko an, Mirko starrte Mira an, seine Hände bewegten sich in seinem Schoß, als suchten sie nach dem Strickzeug, das zu Boden gefallen war.
»Du bist nicht Maria«, sagte er jetzt, während er langsam aufstand. »Bist du …?«
Sie wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück.
Quaatsch , quaatsch!
machten ihre Schuhe wie große scheußliche Kröten.
»Mirabella«, sagte Mirko. Seine Stimme klang genau wie damals,weich und warm und vertraut.
Mirabella , mein Kätzchen.
Es war, als ob jemand die Zeit zurückdrehte, als ob die Jahrzehnte an ihr vorbeirasten und sie in sich zusammenschrumpfte und wieder ein Kind wurde, nur ein paar Zentimeter größer als Mirko. Jeden Moment würde ihre Mutter aus dem Zelt treten, vor dem Mirko saß, in ihrem weit ausgeschnittenen, rot getupften Sommerkleid, aber weil es noch so kalt war, hatte sie eine langärmelige Bluse darunter und vielleicht trug sie sogar die Hosen, die ihr Esmeralda geschneidert hatte, weil es nun einmal einfach nichts Besseres gegen Kälte gab als ein Paar Hosen.
»Wo hast du dich nur so lange herumgetrieben, Mirabella?«, würde sie fragen, aber der Ärger in ihrer Stimme wäre nur gespielt.
»Ich war hier und dort, ich habe ganz vergessen, wo ich überall gewesen bin«, würde Mira antworten, und das wäre die Wahrheit.
»Mirabella«, sagte Mirko noch einmal. Bei den letzten beiden Silben des Wortes brach seine Stimme, und Mira sah, dass seine Augen glänzten.
»Ich habe mich mit Mirko beraten«, hörte sie plötzlich ihre Mutter sagen, ihre junge Mutter in ihrem weit ausgeschnittenen, rot getupften Sommerkleid. »Er ist derselben Meinung wie ich. Es geht gar nicht anders.«
Das waren damals ihre letzten Worte gewesen, und als Mira jetzt daran dachte, wurde sie wütend. Dieser lächerliche Zwerg, nun stand er vor ihr und kämpfte mit den Tränen, und damals hatte er sie nicht schnell genug loswerden können.
Sie wollte ihm all das ins Gesicht schleudern, aber als sie Mirko ansah, wie er schluckte und blinzelte, fand sie keine Worte, ihr Kopf war vollkommen leer.
»Mira«, hörte sie hinter sich eine Männerstimme. »Mira, ist alles in Ordnung?«
Anselm. Das brachte sie wieder zur Besinnung. Ich bin ja erwachsen, dachte sie, ich bin kein Kind mehr, sondern eine Frau, ich kann tun und lassen, was sie will. Ich bin Mira. Mirabella ist längst tot, seit vielen Jahren schon.
Mit diesem Gedanken drehte sie sich um und ging einfach weg, mit ruhigen, langen Schritten.
Quaatsch , quaatsch !
machten ihre Schuhe auf der nassen Wiese. Hinter ihr stand Mirko und sah ihr nach oder auch nicht.
In dieser Nacht ging sie nicht nach Hause. Sie fuhr mit Anselm nach Bilk, dann tranken sie ein paar Bier und aßen Mettwurst mit Brot. Zufälligerweise war es dasselbe Lokal, in das Anselm sie damals ausgeführt hatte, an jenem ersten Abend nach dem Kino. Vielleicht war es ja auch gar kein Zufall. Nachdem Mira vier Gläser Bier getrunken hatte, wurde ihre Aussprache sehr viel undeutlicher. Dann brachte Anselm sie zur Droschke. Der Fahrer öffnete ihr die Wagentür, aber sie stieg nicht ein.
»Was ist denn, Mira?«, fragte Anselm, dieselbe Frage, die er ihr an diesem Abend schon so oft gestellt hatte.
»Ich will nicht nach Hause«, sagte sie. »Ich bleibe heute Nacht bei dir.«
»Wie stellst du dir das vor?«, fragte Anselm, während der Chauffeur den Wagenschlag wieder zuwarf. »Meine Hauswirtin …« Neben ihm riss der Droschkenfahrer ungläubig die Augen
Weitere Kostenlose Bücher