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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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Es roch nach Schimmel und feuchten Wänden. Mira hätte gerne ein Fenster geöffnet, aber es gab keines.
    »Der Zirkus ist in der Stadt.« Ihre Mutter stand jetzt so dicht neben ihr, dass Mira den Vanilleduft ihrer Gesichtscreme riechen konnte.
    Miras Herz begann erst leise zu hämmern und steigerte sich dann rasch wie eine Maschine, die eine Weile braucht, um richtig in Fahrt zu kommen. »Welcher Zirkus?«, fragte sie, obwohl sie es doch genau wusste.
    »Welcher Zirkus wohl?«
    »Aber Lombardi ist lange tot. Ich dachte, die Truppe hat sich aufgelöst.«
    »Sie haben sich einer anderen Truppe angeschlossen. Zirkus Eltinger. Sie gastieren auf der Golzheimer Heide.«
    »Warst du schon dort?« Die Maschine in ihrer Brust arbeitete jetzt auf Hochtouren.
    »Noch nicht. Ich dachte, vielleicht könnten wir beide …«
    »Woher weißt du überhaupt davon? Dass die Leute von damals jetzt mit diesem Zirkus reisen und dass sie hier sind? Stehst du noch in Kontakt mit ihnen? Oder hast du wieder eine deiner Erscheinungen gehabt?«
    Ihre Mutter verzog ein wenig verächtlich das Gesicht und antwortete nicht.
    »Wer ist denn noch dabei? Die meisten von früher sind doch inzwischen tot.«
    »Pito, Domenica, Chiara, Silvan, Eva und Blasius …. sogar Vanja ist angeblich noch mit von der Partie.«
    »Und Mirko? Mirko auch?« Miras Stimme klang dünn und gepresst, weil ihr jagendes, hämmerndes Herz ihre gesamte Energie verbrauchte.
    »Ja«, sagte ihre Mutter.
    Dann schwiegen sie beide. Mira starrte auf die schmutzigen Teller auf dem Spülstein, und ihre Mutter starrte auf die Fettflecken über dem Herd.
    »Was ist nun? Kommst du heute Abend mit zur Vorstellung?«, fragte sie nach einer Weile. Auch ihre Stimme war jetzt seltsam brüchig.
    Mira riss ihre Augen von den Tellern los und schaute ihre Mutter an. Sie sah die schwarz geschminkten Augen und die vielen kleinen Fältchen, jedes einzelne warf im Licht der Glühbirne einen harten, grausamen Schatten. Du hast mich im Stich gelassen, dachte sie.
    »Nein, Mutter«, sagte sie laut, und ihre Stimme klang auf einmal fest und sicher, obwohl ihr Herzschlag inzwischen ihren ganzen Brustkorb erfüllte. »Da musst du schon alleine hingehen. Ich habe mit dieser Angelegenheit nichts mehr zu schaffen.«
     
    Das war natürlich eine Lüge. Mira wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte. Sie musste den Zirkus sehen. Es war wie eine Reise in die Vergangenheit, in eine Vergangenheit vor der Vergangenheit, bevor die ganze Welt von einem Tag zum anderen zusammengebrochen war. Die einzige Frage war, wer sie dorthin begleiten sollte. Am liebsten hätte sie Gudrun mitgenommen, aber ihre Freundin war übers Wochenende verreist. Wir fahren ein paar Tage in die Berge, hatte sie Mira erzählt. Wir, das schloss natürlich die Pressmann mit ein.
    Otto wäre bestimmt mitgekommen. Aber Otto war ohnehin schon besessen von ihrer Vergangenheit. Er stellte so viele Fragen und zog so viele Schlüsse.
    Also fragte sie Anselm. Er sträubte sich am Anfang, als erhörte, dass sie in den Zirkus wollte. »Das ist doch etwas für Kinder und Spießbürger.«
    »Ach, hab dich nicht so! Ich möchte es nun einmal so gerne sehen.«
    Sie fuhren mit der Elektrischen bis zur Endstation und gingen dann zu Fuß, am Gelände der Luftschiffhalle vorbei. Auf dem halbrunden Dach strahlten unzählige Lampen ihr fahles Licht in den abendgrauen Aprilhimmel – als ob mitten in der Nacht noch ein Luftschiff erwartet wurde.
    Mira hatte den Arm in seinen gelegt, ihre Hände berührten sich. »Bist du als Kind gern in den Zirkus gegangen?«, fragte sie.
    »Welches Kind geht nicht gern in den Zirkus?«, fragte Anselm zurück. »Aber bei uns fehlte es immer an Geld. Brot ist wichtiger als Spiele, hat meine Mutter gesagt, damals hab ich nicht verstanden, was sie damit meinte – heute weiß ich es.«
    Sie nickte betreten und fühlte sich plötzlich frivol und oberflächlich, wie immer, wenn Anselm von seiner Kindheit erzählte. Er war in einer großen Bergarbeiterfamilie in Duisburg aufgewachsen. Sein Vater war an einer Staublunge gestorben, bevor er die Fünfzig erreicht hatte, und hatte eine Frau und sieben Kinder zurückgelassen. »Und ein achtes im Bauch, aber das ist gestorben, kaum dass es geboren war«, hatte Anselm erzählt. Anselm war mit sechzehn Jahren der Älteste, er wollte studieren, aber das war natürlich undenkbar, er und sein vierzehnjähriger Bruder mussten die Familie ernähren. Sein einziger Trost war das alte verstimmte

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