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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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gekommen.
    Später kam ein Gewichtheber und zeigte seine Muskeln. Inder Mitte der Manege drückte er eine Gewichtsstange nach oben. Mira sah, wie sich sein Kopf rötete und die Adern an seinen Schläfen nach außen traten. Vielleicht ist er mein Vater, dachte sie. Ob sie irgendetwas spüren würde, wenn er tatsächlich ihr Vater wäre? Nein, sicher nicht. Die Stimme des Blutes – so etwas gab es doch nur in Groschenromanen und Liebesfilmen.
    Die Musiker über der Manege spielten ein Potpourri aus bekannten Schlagern, als sie das Zelt wieder verließen. Wenigstens das war wie früher, auch wenn inzwischen andere Stücke gespielt wurden. Damals hatte die Kapelle zum Abschluss den Cancan aus »Orpheus in der Unterwelt« gebracht und ein anderes Lied, an das Mira sich jetzt plötzlich erinnerte, obwohl sie jahrelang nicht mehr daran gedacht hatte. Die alte Marthe hatte es ihr oft vorgesungen, daher kannte Mira auch den Text.
    Schlösser, die im Monde liegen,
    Bringen Kummer, lieber Schatz.
    Um im Glück dich einzuwiegen,
    Hast du auf der Erde Platz!
    Schlösser, die im Monde liegen, dachte Mira. Der ganze Zirkus war so ein Schloss im Mond, eine Vorstellung aus einer längst vergangenen Zeit, die ihr nichts als Kummer brachte.
    Was vorbei war, war vorbei. Die Zirkusleute von damals würden Mira nicht mehr wiedererkennen, es war Zeit, dass auch Mira sie vergaß. Sie spürte dennoch eine dumpfe Enttäuschung, als sie in die kühle Nachtluft hinaustraten.
    Über den Zelten spannte sich ein tiefblauer Himmel, auf dem unzählige winzige Sterne glitzerten wie Pailletten auf einem Kostüm. »Mir ist nach einem Bier«, sagte Anselm. »Und Hunger habe ich auch. Lass uns zurück in die Stadt fahren.«
    Er reichte ihr seinen Arm, und sie machten große, vorsichtige Schritte, weil der Trampelpfad zum Ausgang so matschig war. Im großen Zelt spielte immer noch die Zirkuskapelle, aber je weiter sie sich entfernten, desto mehr zerriss die Melodie in einzelne Klangfetzen. Ein Trommelwirbel, ein Geigenjubeln,eine klagende Klarinette. Mira hatte plötzlich den Eindruck, dass sie
Schlösser, die im Monde liegen
spielten, sie blieb so abrupt stehen, dass die Frau hinter ihr fast mit ihr zusammenstieß. Es war jedoch ein anderes Lied.
    Als sie fast am Ausgang waren, sah sie den Zwerg.
     
    Er saß vor einem der kleinen Zelte und strickte. Mirko, dachte Mira. Dabei konnte sie sein Gesicht nicht erkennen, nur das graue Haar, das oben auf dem Kopf so dünn war, dass man die Kopfhaut sehen konnte.
    »Was ist denn jetzt?«, fragte Anselm, weil sie wieder stehen geblieben war.
    »Ich muss nur eben …«, murmelte sie und zog ihren Arm aus seinem. Ihre Schuhe machten schmatzende Geräusche auf dem nassen Gras, als sie auf den Zwerg zuging. Sie spürte, wie die Nässe durch die Sohlen drang, das Wasser fühlte sich erstaunlich warm an, aber vermutlich lag es nur daran, dass ihre Füße so kalt waren.
    Als sie den Zwerg fast erreicht hatte, hob er den Kopf.
    Mira verschränkte die Arme vor der Brust, ganz fest, damit ihr Brustkorb nicht auseinanderbrach, weil ihr Herz so wild dagegen hämmerte.
    Ja, es war Mirko. Nein, es war nicht Mirko.
    Sie war sieben Jahre alt gewesen, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. So viel Zeit war inzwischen vergangen. Ein Zwerg sah aus wie der andere.
    »Maria«, sagte der Zwerg und ließ sein Strickzeug fallen.
    Da wusste sie, dass es wirklich Mirko war.
     
    Er war wie ein Vater zu ihr gewesen, aber er war nicht ihr Vater, denn schon mit sieben war Mira ein kleines Stück größer als er. Aber Mirko hatte ihr beigebracht, wie man rechnet und liest und angelt, er hatte ihr den ersten wackelnden Milchzahn gezogen und sie ins Bett gebracht, wenn ihre Mutter abends tanzen ging. Er hatte sie gelehrt, wie man kämpft. »Du bist klein«, hatte er ihr eines Tages erklärt. Sie erinnerte sich nochso gut daran, es war im Frühling gewesen, sie hatten die Zirkuszelte unter blühenden Obstbäumen auf einer Wiese am Bach aufgeschlagen, und die Luft war voller Insektensummen und Blütenduft. »Das ist kein Nachteil. Das ist deine Stärke. Schau mich an! Hast du jemals gesehen, dass mich einer angegriffen hat? Nein, und warum nicht? Weil sie genau wissen, dass sie den Kürzeren ziehen würden.« Sie hatte ihn angesehen und gelacht. Dieser winzige Mann mit seinem lächerlich großen Kopf, dem plumpen, unförmigen Körper! Jeder im Zirkus, Mann oder Frau oder Kind, war stärker als Mirko. Oder vielleicht doch nicht? »Ich bin

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