Zitronen im Mondschein
auf.
»Damenbesuch ist nicht gestattet«, begann Anselm aufs Neue, dabei tastete er seine Jacke nach Zigaretten ab.
Der Fahrer räusperte sich.
»Wenn isch och wat saare dörf«
, begann er vertraulich, während er noch dichter an Anselm herantrat, als könnte ihn Mira dann nicht hören.
»Halten Sie sich da raus«, sagte Anselm und wich ein Stück zur Seite.
»Wenn dat e su is.«
Der Chauffeur spuckte in einem hohen Bogen an seinem Auto vorbei auf die Straße.
»En anjenehme Ruh, de Herrschaften.«
Siebtes Kapitel
I.
Maria wusste früher als alle anderen, dass es Krieg geben würde. Sie erfuhr es von der Jungfrau Maria, die ihr am zweiten Sonntag im Januar 1914 erschien. Sie hatten ihr Winterlager wieder in der Nähe von Freiburg aufgeschlagen, die meisten anderen waren in die Stadt zur Messe gegangen, auch Mirabella hatten sie mitgenommen, aber Maria hatte Schnupfen und leichtes Fieber, deshalb blieb sie im Lager.
Die alte Marthe hatte ihr einen Becher Kamillentee vorbeigebracht, bevor sie losgegangen waren, er stand dampfend auf einem Hocker neben Marias Bett. Maria hatte ihre sämtlichen Decken über sich ausgebreitet und ihren hellbraunen Wintermantel, den ihr Madame Argent noch hatte schneidern lassen, und ganz oben auf dem Berg lag Wotan und putzte sich. Während sie schwitzend dalag und durch den Kamillendampf auf die Zeltwand starrte, tauchte dort das Gesicht der Muttergottes auf.
Die Augen traten immer als Erstes in Erscheinung, die dunklen, schmalen Augen über den hohen Wangenknochen. Dann zeichnete sich die Nase ab, und zum Schluss erschien der Mund, die volle Oberlippe und die schmalere Unterlippe. Sie kannte das Gesicht inzwischen so gut, obwohl es ihr erst zwei Mal erschienen war. Einmal im Käppele, als die Muttergottes ihr Madame Argents Tod prophezeit hatte. Und ein zweites Mal nach Mirabellas Geburt.
Heute machte ihr die Madonna keine Angst mehr, auch wenn sie immer noch keine Ahnung hatte, warum sie ausgerechnet ihr erschien.
»Vielleicht ist es dein Name. Du heißt Maria wie sie«, hatte Mirko einmal überlegt. Er war überhaupt der Einzige, dem sievon den Visionen erzählt hatte, weil sie sich ganz sicher war, dass er es nicht weitererzählen würde.
Aber es gibt Tausende, Millionen von Mädchen, die Maria heißen, dachte sie.
Das Gesicht der Muttergottes schwebte über der weißen Waschschüssel mit dem langen Sprung. Gegrüßet seist du, Maria, dachte Maria, und dann empfing sie die Botschaft der Gottesmutter in ihrem Innersten. Es war wie immer so, dass sie keine einzelnen Worte, keine Stimme hörte, sie war vielmehr ein leeres Gefäß, das die Jungfrau mit einer Nachricht füllte.
»Es wird einen furchtbaren Krieg geben«, berichtete sie Mirko, als er eine Weile später ins Zelt kam, um nach ihr zu sehen. »Die Muttergottes hat es mir gesagt.«
Er stellte den Becher Tee, der inzwischen kalt geworden war, auf den Tisch und setzte sich auf den Hocker. »Wann? Hat sie gesagt, wann es soweit ist?«
»Am Ende des Sommers«, sagte Maria. Danach schlief sie viele Stunden lang. Als sie aufwachte, war es draußen dunkel, und ihr Fieber war verschwunden. Sie zog sich an und ging zu den anderen ins große Zelt, in dem der gusseiserne Ofen stand, den der Zirkus im Jahr zuvor gekauft hatte. Im Sommer wurde der Ofen bei einem Bauern eingelagert, deshalb schlugen sie ihr Winterlager jetzt immer in Freiburg auf.
Draußen fiel Schnee in großen lautlosen Flocken. Drinnen vermischte sich die Ofenwärme mit dem Pfeifenrauch, dem Geruch von gerösteten Kastanien, Bucheckern und feuchten Kleidern.
Sie setzte sich neben Blasius, der sie nicht bemerkte, weil er damit beschäftigt war, Eva zu beobachten, die mit Sascha scherzte. Maria spreizte ihre Finger und fühlte das vertraute schmerzhafte Prickeln, als das Blut zurück in ihre Fingerspitzen floss. Sollte sie den anderen erzählen, dass ein Krieg bevorstand? Aber wie sollte man ihr glauben? Wenn sie sagte, dass sie eine Vision gehabt hatte, würde man sie nur auslachen.
Heilige Maria, hilf mir, dass ich das Richtige tue, dachte sie. Aber wie immer erhielt sie keine Antwort. Das war dasSchlimmste an den Erscheinungen, die sie immer wieder heimsuchten, ganz egal, ob es Madame Argent war oder die Muttergottes. Dieses Gefühl, dass etwas von ihr erwartet wurde, etwas Großes, Entscheidendes, Weltveränderndes. Sie hatte die Botschaft empfangen, sie musste nun handeln. Aber sie wusste niemals, was sie tun sollte. Wenn ihr wollt, dass etwas
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