Zitronen im Mondschein
Kaffeetasse wieder abholte, warf sie einen Blick in sein Skizzenbuch. Er malte meistens seine eigenartigen Maschinen, die sich aus toten und lebendigen Tieren und essbaren Dingen zusammensetzten. Daneben kritzelte er in winzigen, fast unleserlichen Buchstaben seine wirren Texte, und manchmal las er sie ihr auch vor. »Dada ist die Sonne«, las er. »Dada ist das Ei. Dada ist die Polizei der Polizei.«
Aber heute hatte er keine Maschine aus Tieren und Lebensmitteln entworfen, sondern ein Schlachtfeld gezeichnet: halbnackte Männerkörper, aufgespießt von Bajonetten, abgeschnittene Gliedmaßen, Bombenkrater, Schützengräben. Ein halbverwester Totenschädel am vorderen Bildrand, seine leeren Augenhöhlen starrten sie an. Blut, Sturzbäche von Blut, obwohl es eine Bleistiftzeichnung war, war es offensichtlich, dass es Blut war.
»Sie waren im Krieg«, sagte Mira betroffen.
»Der Krieg ist eine schlimme Sache«, erwiderte er nachdenklich. »Ich halte nichts davon.«
»Ich auch nicht.« Sie streckte die Groschen ein, die er für den Kaffee auf den Tisch gelegt hatte.
»Wie finden Sie die Zeichnung?«, fragte er.
»Ich verstehe nichts von Kunst, aber Ihre anderen Bilder gefallen mir besser. Die Tiermaschinen, die Sie sonst immer zeichnen.«
»Ja.« Er nickte. »Aber man kann es sich schließlich nicht aussuchen.«
Was heraus muss, muss heraus,
dachte sie, und das brachte sie auf Otto. Sie sahen sich jetzt öfter, Otto und Mira. Ein oder zwei Mal in der Woche holte er sie nach der Arbeit in der Rheinterrasse ab und lud sie zum Essen ein. Sie sprachen nie mehr über
ihr Geheimnis
, wie er es genannt hatte, und auch Sigmund Freud und seine Psychoanalyse wurden nicht mehr erwähnt.
»Ich habe keine Lust, mich von Ihnen wie eine Geisteskranke behandeln zu lassen«, hatte sie ihm erklärt.
»Als ob ich das jemals getan hätte.«
»Kein Wort über meinen Seelenzustand«, beharrte sie. »Sonst stehe ich direkt auf und gehe.«
Sie meinte es so, und er wusste das, also sprachen sie über andere Dinge. Sie erzählte ihm von den Filmen, die sie sah, er erzählte von seiner Arbeit und den Büchern, die er las. Vor ein paar Tagen hatte sie ihn gefragt, ob er immer noch in Gudrun verliebt sei. »Ich glaube nicht«, entgegnete er, nachdem er kurz über die Frage nachgedacht hatte. »Aber vielleicht liegt es nur daran, dass ich eingesehen habe, dass ich keine Chance habe, bei ihr zu landen.«
»Das ist gut«, meinte Mira, und als Gegenleistung für seine ehrliche Antwort erzählte sie ihm von Anselm.
»Ein Kommunist«, sagte Otto überrascht. »Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht.«
»Haben Sie etwas gegen die kommunistische Partei? Halten Sie es etwa mit den Rechten?«
Die Frage meinte sie natürlich nicht ernst. Otto und die Nationalsozialisten mit ihrem Gebrüll von Vaterland und Volk und Ehre – das passte einfach nicht zusammen.
Er ging auch gar nicht erst auf die Frage ein. »Die meisten Kommunisten haben meiner Meinung nach so etwas Verbohrtes …«
»Anselm aber nicht.«
»Natürlich nicht«, sagte er und grinste.
Sie spürte, wie sie rot wurde, und das ärgerte sie so sehr, dass sie noch heftiger errötete.
»Warum stellen Sie mir Ihren Verlobten nicht einfach einmal vor, damit ich mir mein eigenes Bild machen kann?«, meinte er.
»Das geht nicht«, sagte sie schnell. Warum wollte sie nicht, dass die beiden sich kennen lernten? Weil es stimmt, dachte sie betroffen. Anselm entspricht genau der Vorstellung, die Otto sich von einem Kommunisten macht. Er ist durch und durch verbohrt.
Otto grinste noch breiter, als könne er ihre Gedanken lesen. Aber ich liebe ihn, und dich liebe ich nicht, dachte Mira, und das verlieh ihr ein Gefühl des Triumphes.
»Warum können Sie ihn mir nicht vorstellen?«, fragte Otto.
Mira suchte einen Moment lang nach einer Ausflucht. Weil er so beschäftigt ist. Weil er verreist ist. Weil er der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Zum Teufel damit, dachte sie.
»Weil Sie sich nicht mit ihm verstehen würden. Und er sich nicht mit Ihnen.«
»Sind Sie sich da so sicher?«
»Vollkommen.«
Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch an ihrem Kopf vorbei. »Sie sind ein ganz eigenartiges Mädchen, Mira«, sagte er nachdenklich. »Ich werde und werde einfach nicht schlau aus Ihnen.«
Das ging ihr schon wieder viel zu sehr in die Richtung Freud und Psychoanalyse. Sie winkte dem Kellner und fragte nach der Rechnung, obwohl Otto es doch gewesen war, der sie zum Essen
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