Zitronen im Mondschein
auf sie.
Der Gedanke brachte Mira wieder vor dem Eimer auf die Knie. Ich will nicht mehr denken, ich kann nicht mehr denken, dachte sie, als sie zurück im Bett war. Ich will schlafen.
Und sie schlief.
Vielleicht drei oder vier Minuten lang, bis sie das Klopfen an der Tür wieder in die grelle Wirklichkeit riss. Sie saß sofort aufrecht im Bett, die Augen weit aufgerissen. Es ist dieser Franz, dachte sie und hielt den Atem an, damit er sie draußen im Flur nicht hören konnte. Dann klopfte es wieder, und gleichzeitig wurde ihr Kopf klarer. Er würde doch jetzt nicht auftauchen, nicht um diese Zeit. Es war jemand anderes, Gudrun oder Frau Kanzler, ihre Zimmerwirtin, die sich erkundigen wollte, warum Mira nicht zur Arbeit gegangen war. Wenn es Gudrun ist, kann sie für mich zum Postamt gehen und in der Rheinterrasse anrufen, dachte Mira.
»Wer ist da?« Ihre Stimme klang, als hielte sie den Kopf unter Wasser.
»Mirabella?«
Mira schloss die Augen und ließ sich zurück aufs Kopfkissen fallen. Ihre Mutter! Sogar dieser Franz wäre ihr jetzt noch lieber gewesen. Den hätte sie wenigstens abwimmeln können, wohingegen ihre Mutter …
»Mirabella!« Die Stimme im Treppenhaus klang jetzt ungeduldig. »So öffne doch endlich! Ich stehe mir hier die Füße in den Leib.«
Miras Kopf drehte sich, als sie den Riegel von der Tür zurückschob. Ihre Mutter drängte sich in den kleinen Raum und füllte ihn sofort mit ihrer ruhelosen Energie aus. Sie trug einen grünen Mantel und ein fliederfarbenes Kleid, das viel zu weit ausgeschnitten war. Auch wenn das jetzt die Mode war, so war das doch nichts für eine Frau, die die Vierzig überschritten hatte. »Hier riecht es nicht gut«, sagte sie und zog dabei angewidert Luft durch ihre Nasenlöcher.
»Mir geht es auch nicht gut«, sagte Mira, während sie wieder ins Bett stieg.
»Bist du krank, Mirabella?«
Mirabella – wie sie den Namen hasste! Als Kind hatte sie darunter gelitten wie unter einer schlimmen Krankheit.
Pfläumchen
hatten die anderen Kinder sie immer gerufen. Heute nannte sie sich Mira, das ging, weil niemand wusste, wie sie wirklich hieß.
Sie drehte den Kopf zur Seite und spürte dennoch, wie die schwarz geschminkten Augen ihrer Mutter über ihr Gesicht wanderten. Mira hatte das unsinnige Gefühl, dass die Luft um sie herum leise summte, als sei sie elektrisch aufgeladen.
»Woher wusstest du, dass ich nicht bei der Arbeit bin? Hat Gudrun gesagt, dass du nach mir sehen sollst?« Zum Teufel mit Gudrun! Warum war sie nicht selbst gekommen, statt ihr ihre Mutter auf den Hals zu hetzen?
»Gudrun?« Ihre Mutter zog die Brauen hoch, als hörte sie den Namen zum ersten Mal. »Nein, nein. Ich habe es doch gespürt, dass etwas nicht in Ordnung ist mit dir.«
Mira machte die Augen wieder zu und stieß den Atem aus. Ihre Mutter und die Übersinnlichkeit. Nein, sie wollte sich nicht darüber ärgern, wenn sie sich ärgerte, wurde ihr nur wieder schwindelig und schlecht, und sie hatte keine Kraft mehr, sich zu übergeben.
»Ich mache dir Tee.« Ihre Mutter riss das Küchenbüffet auf und begann darin zu herumzuwühlen, auf der Suche nach der Teekanne, die jedoch oben in der Ofenklappe stand.
Wenn sie sie nicht findet, geht sie vielleicht, dachte Mira, aber ihre Mutter gab nicht auf, sie klapperte und schepperte weiter und hörte dabei nicht auf zu reden. Mira beschloss, sie einfach zu ignorieren. Sie atmete tief und ruhig ein und aus. Und es wirkte. Zuerst hörte das Klappern und Scheppern auf, dann wurde ihre Mutter leiser und leiser, und schließlich schlief sie wieder.
»Trink, das wird dir gut tun.« Die dampfende Teetasse vor Miras Gesicht verströmte einen abscheulichen Geruch. Sie spürte die weiche, kraftvolle Hand ihrer Mutter in ihrem Nacken, unter den Haaren. So hatte sie sie auch früher gehalten,als Kind, wenn sie krank gewesen war. Nur der Tee hatte anders gerochen.
Vielleicht war es die Erinnerung, die Mira dazu brachte, einen Schluck zu nehmen. Der bittere Geschmack brachte sie fast wieder zum Erbrechen, aber als er einmal in ihrem Magen angekommen war, fühlte sie sich wirklich besser.
»Ah«, machte sie. Das Geräusch entfuhr ihr, ehe sie es verhindern konnte.
»Na siehst du!«, sagte ihre Mutter und lächelte.
»Warum lässt du mich nicht in Ruhe?« Mira sah mit einer gewissen Befriedigung, wie das Lächeln wieder verschwand.
»Ich will dir doch helfen.« Ihre Mutter stellte die halb leere Tasse auf den Nachttisch. An den nach oben
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