Zitronen im Mondschein
ersten Gerichten, die sie mittags auftrug, knurrte ihr Magen noch, und das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Aber mit jedem Teller, den sie nach draußen schleppte, wurde ihr Hunger kleiner, erst fühlte sie sich satt, und dann begann sie sich zu ekeln. Schweinebraten, Rindsrouladen, Würste, Gulasch, Pannhas. Stampfkartoffeln, Spiegelei, Blumenkohl und grüne Bohnen. Zum Nachtisch Eierkuchen, Obstmus oder Torte. Die Leute aßen, als stünde ein neuer Krieg ins Haus, als gäbe es kein Morgen. Am nächsten Tag waren sie wieder da und stopften sich die Bäuche von neuem voll. Sie aßen und sahen dabei den Turnernzu, die sich unten auf den Rheinwiesen in langen Reihen aufstellten, die Rücken gerade, die Arme nach vorn. Und dann Rumpfbeugen, Kniebeugen, Liegestütz, alle im Gleichtakt und mit seltsam vorwurfsvollen Gesichtern. Als missbilligten sie ihre glotzenden, fressenden Zuschauer auf der Rheinterrasse, für die sie ihre Übungen doch aufführten.
»Fräulein, zahlen!« Eine ungeduldige Frauenstimme legte sich über den Klangteppich aus Worten, Besteckklappern, Lachen, Gläserklirren. Miras Augen flogen in ihre Richtung, es war der Tisch rechts neben der Tür. »Ich komme!«, rief sie und hoffte, dass die Frau sie hörte, dass sie nicht einfach aufstand und ging, wie neulich ein ganzer Tisch von Gästen, für deren Zeche Mira dann hatte aufkommen müssen.
Ihre Oberarme zitterten, als sie die Teller mit dem Braten auf dem Tisch abstellte. »Das wurde aber auch Zeit«, knurrte ein hagerer Mann, während er sein Essen so wachsam durch ein Monokel betrachtete, als habe er Angst, dass es plötzlich vom Teller springen und davonlaufen könnte.
»Es ist ein großer Andrang«, wandte seine Frau ein. Sie war ebenso hager, aber viel kleiner, mit einem faltigen, freundlichen Gesicht. Auf dem Kopf trug sie einen breiten Strohhut mit einem rosa Band, der zu mädchenhaft für sie war. »Und das Wetter bringt einen recht zum Schwitzen.« Sie zog ein winziges weißes Taschentuch aus der Handtasche und tupfte sich über die Oberlippe. Als sie lächelte, sah Mira ihre langen, gelben Zähne. Jemand sollte ihr sagen, dass ihr der Hut nicht steht, dachte Mira, während sie sich schon wieder abwandte.
Schließlich hatte sie keine Zeit zu verlieren. Zuerst die Rechnung für die Frau, die gerufen hatte, und dann zu Tisch sieben, an dem die Gäste endlich bestellen wollten. Und der Herr an Tisch zwölf wartete noch auf sein Bier, wahrscheinlich war es längst gezapft und stand schon auf der Theke.
Auf der Sommerterrasse standen die Tische in drei Reihen, jeweils sieben hintereinander, und mittags waren so gut wie alle besetzt. Mittags bedienten sie zu dritt hier draußen, Mira, Elsbeth und Emmi, aber am Nachmittag wechselten jeweilseine ins Weinlokal und ins Kaffeerestaurant, und die Dritte bediente die Tische allein weiter.
Vorne an der Brüstung war ein Tisch frei geworden, bemerkte Mira aus dem Augenwinkel, während sie nach drinnen eilte. Hatten sie bezahlt oder waren sie einfach gegangen? Sie konnte sich nicht an die Gesichter erinnern, aber die Gerichte fielen ihr wieder ein. Forelle blau mit Pellkartoffeln und Gulaschsuppe. Eine Mark achtundneunzig. Nein, es war alles in Ordnung, sie hatte die Herrschaften vorhin noch abkassiert.
Das Sommerrestaurant war der größte Saal der Rheinterrasse – und der schönste, wie Mira fand. Obwohl der Raum natürlich bei weitem nicht so beeindruckend war wie der goldene Kuppelsaal und der Weinsalon mit seinen deckenhohen Wandgemälden. Aber im Sommerrestaurant gab es riesige Glasfenster, durch die die Sonne hereinfiel und Streifenmuster und Ornamente auf den dunklen Eichenboden malte. Die Glasfassade löste den Raum zur Terrasse hin auf, außen und innen wurden eins. Wenn es draußen sehr warm war, drückte die Sonne allerdings derart durch die Fenster, dass es schon mittags unerträglich heiß wurde. Heute war es sehr warm, und Mira hätte zu gerne ihre weiße Schürze ausgezogen oder wenigstens die obersten Knöpfe der Bluse geöffnet, aber das war natürlich undenkbar.
Auf dem Brett über der Essensausgabe hingen die Bestellzettel der Serviermädchen, aufgespießt auf lange Nägel wie tote Schmetterlinge. Die Mädchen schrieben die Bestellungen auf und gaben die Zettel in der Küche ab, und hinterher steckte der Koch die einzelnen Blätter an das Brett, wo die Mädchen sie wieder abrupften, wenn es ans Kassieren ging. Es standen aber keine Wörter auf den Zetteln, sondern Nummern und
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