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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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hereintrat, als wäre Ludwig sein Vorgesetzter.
    Am nächsten Morgen konnte Ludwig nicht aufstehen, seine Beine brannten und stachen, als ob ihm etwas tief in den Knochen säße, eine eiternde, schwärende Wunde. Hahn und Arendsen legten seine Arme um ihre Schultern und schleppten ihn ins Lazarett, obwohl sie alle wussten, dass da nichts war, dass er sich das Ganze nur einbildete. Gegen Mittag heulte er nur noch, weil der Schmerz immer furchtbarer in ihm wühlte. Einer der Sanitäter trat an seine Pritsche und redete erst leise auf ihn ein, dann lauter, dann ohrfeigte er ihn, aber auch das nützte nichts.
    »Es sind die Nerven«, hörte er irgendjemanden sagen. »Er packt es nicht mehr.«
    Man gab Ludwig eine Spritze, vermutlich war es nichts als Salzwasser, aber es wirkte. Er schlief ein, und als er wieder aufwachte, brachte man ihm den Urlaubsschein und eine Fahrkarte.
    Hahn begleitete ihn zur Feldbahn. Die Schmerzen hatten ein wenig nachgelassen, jetzt spürte er nur noch ein unangenehmes Ziehen, das wellenartig an- und abschwoll. »Erhol dich«, sagte Hahn. »In drei Wochen sieht die Welt dann wieder anders aus.« Kurz bevor der Zug abfuhr, kramte er plötzlich ein kleines Buch aus der Tasche und reichte es Ludwig. »Wir haben es erst gefunden, als die anderen Sachen schon weg waren. Die anderen meinten, dass man es dir nicht geben soll, weil es dich wieder erinnert. Aber er hätte gewollt, dass du es bekommst.«
    Es waren die »Gedanken« von Blaise Pascal.
     
    Als der Zug langsam anfuhr, drehte Hahn sich um und ging weg, mit gesenktem Kopf wie nach einem Begräbnis. Vorn an den Gleisen stand ein Sanitäter, der aussah wie Pechstein, ganz genauso, das schmale Gesicht mit den starken Wangenknochen, die hohe Stirn. Was für ein Blödsinn!
    Das Ziehen in Ludwigs Beinen schwoll wieder an und wurde zu einem bösartigen Reißen.
    Ludwig schob das Fenster nach oben und schlug das Büchlein auf, das ihm Hahn gegeben hatte.
Quirin Sommer, August 1913,
hatte jemand mit blauer Tinte auf die erste Innenseite geschrieben. Quirin. Ihm wurde zum ersten Mal bewusst, dass er Sommers Vornamen gar nicht gekannt hatte. Vielleicht hatte er ihn einmal gehört und dann sofort wieder vergessen. An der Front nannte man sich nur beim Nachnamen. Sommer. Wunder. Was für Namen! Da hörte man im Grunde sofort, dass sie nicht für den Krieg geschaffen waren.
    Weiter hinten hatte Sommer einige Zeilen unterstrichen:
    Jeder prüfe seine Gedanken. Er wird finden, dass sie ganz mit der Vergangenheit oder der Zukunft beschäftigt sind. Wir denken fast überhaupt nicht an die Gegenwart, und wenn wir an sie
denken, so nur, um aus ihr die Einsicht zu gewinnen, mit der wir über die Zukunft verfügen wollen. Die Gegenwart ist niemals unser Ziel.
    Die Vergangenheit und die Gegenwart sind unsere Mittel; allein die Zukunft ist unser Ziel. Deshalb leben wir nie, sondern hoffen auf das Leben, und da wir uns ständig bereit halten, glücklich zu werden, ist es unausbleiblich, dass wir es niemals sind.
    Ludwig schlug das Buch wieder zu. Er schloss die Augen und lauschte auf die Schmerzen in seinen Beinen.
     
    In Flandern war es Herbst gewesen, ein milder, goldener Herbst, der die Schlachtfelder mit einem warmen Schimmer überzog und die Blätter der Ahornbäume vor dem Lager rot wie Blut färbte.
    In Berlin war es bereits Winter. Am Lehrter Bahnhof stemmte sich Ludwig ein kalter Wind entgegen, als wollte er ihn an die Front zurücktreiben. Regentropfen stachen ihm ins Gesicht, eiskalte Nadeln. Mit der Straßenbahn fuhr er zum Nollendorfplatz. Erstaunlicherweise sah alles immer noch genauso aus wie früher. Die Häuser standen ernst und solide in Reih und Glied, die Leute hasteten über die Straßen und hielten ihre Hüte fest, damit sie ihnen der Wind nicht vom Kopf fegte. Vor einigen Geschäften gab es lange Schlangen, das war neu.
    Seine Hauswirtin hatte Ludwigs Kisten auf den Dachboden gepackt, aber davor standen die Schachteln und Koffer von vier anderen Burschen, die ebenfalls im Krieg waren und ihre Sachen eingelagert hatten. »Ausgerechnet jetzt kommen Sie zurück«, jammerte sie. »Da müssen Sie sich wohl ohne ihre Dinge behelfen.« Er dachte an die Staffeleien, Leinwände und Farben, die unter den Dachbalken ruhten, und zuckte mit den Schultern. Es war ohnehin unvorstellbar, dass er jemals wieder malen würde.
    Ludwig mietete sich ein Zimmer in einem Hotel in der Nähe. Die Fensterscheiben klapperten im Wind, und der eiserne Ofen zog nicht

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