Zitronen im Mondschein
richtig, er fühlte sich gleich zu Hause. Er zog die Schuhe aus und legte sich mit den Kleidern ins Bett, dasKopfkissen knüllte er zusammen und schob es unter die Füße. Wenn die Beine ein bisschen erhöht lagen, waren die Schmerzen erträglicher. Er dachte an die anderen, die jetzt vielleicht gruben oder Handgranaten warfen oder starben. Hahn, Egner, Mücke, Flauber. Sommer, der schon tot war. Wo hatte man ihn eigentlich begraben? Und was war mit seinen Büchern geschehen? Wahrscheinlich hatte man sie an seine Eltern geschickt.
Ludwig stellte sich plötzlich seine eigenen Eltern vor, wie es an der Tür klingelte und sie öffneten. Draußen stand der Postbote und brachte ein Paket. Sie fanden darin seine Uniform mit einem braunroten Loch in der Brust, die zerkratzte Marke mit seinem Namen und Dienstgrad, ein Paar zerschlissene Hosen, ein Hemd, einige Zeichnungen von nackten Frauen mit gespreizten Beinen, Sommers Buch.
»Pascal«, würde sein Vater sagen. »Immerhin.«
»Da hat der gütige Herrgott vielleicht doch ein Einsehen«, würde seine Mutter hinzufügen.
Ludwig versuchte einzuschlafen, aber es ging nicht, der Phantomschmerz nagte und biss in seinen Beinen. Da fiel ihm der Brief wieder ein, den ihm seine Hauswirtin noch in die Hand gedrückt hatte. »Gerade gestern ist er für Sie angekommen«, hatte sie beteuert, aber Ludwig bezweifelte es, weil der Umschlag so durchdringend nach Fett und Veilchenparfum roch, genau wie ihre Wohnung.
Ein Schreiben von Pechstein.
New York, im Juli 1915.
Das lag immerhin erst drei Monate zurück.
Lieber Freund,
schrieb er.
Die ganze Welt hat sich gedreht und ich mich mit ihr, seit Du zum letzten Mal Nachricht von mir bekommen hast. Sofern Du meine bisherigen Briefe überhaupt erhalten hast. Ich weiß nicht, wo Du bist und welches Schicksal Dich ereilt hat, seit wir uns vor über einem Jahr zuletzt gesehen haben, ich hoffe aber inständig, dass es in allem zum Besten steht für Dich.
Dasselbe kann man von mir leider nicht behaupten. Nachdem die Soldaten in unser paradiesisches Palau eingebrochen waren und die Idylle zertreten haben, nahmen sie uns mit als ihre Gefangenen.
Mit dem Stationsvorsteher und seinem Heilgehilfen brachte man uns nach Nagasaki in Japan, einer Stadt, die durch ihre Fremdheit unsere Vorstellungen von der Exotik des fernen Ostens noch übertrifft.
Über einen Monat lang wurden wir dort festgehalten, wobei wir uns in der Stadt jedoch frei bewegen konnten. Ach , wären die Umstände nicht so betrüblich gewesen, mit welcher Begeisterung hätte ich mich der Erkundung von Land und Leuten gewidmet! So aber legte sich meine Traurigkeit wie ein grauer Schleier über die Eindrücke. Heute erscheinen mir diese Wochen wie ein verwischter Traum: Die Holzhäuser mit ihren Fenstern aus weißem Papier, die Frauen mit ihren gemalten Augenbrauen, die alten Männer mit Zopf und kahl rasiertem Schädel. Die Badehäuser! Die großen Hallen sind zur Straßenseite hin in ihrer ganzen Länge offen, so dass man die darin Versammelten im Vorübergehen bei der Körperpflege beobachten kann. Mann und Weib gemeinsam, nackt und bloß, wie Gott sie geschaffen hat.
Lass mich die nächsten Stationen meiner abenteuerlichen Reise nur rasch vermerken: Von Nagasaki brachte uns ein Dampfschiff nach Manila, wo wir bis zum Frühjahr 1915 auf Kredit der Schifffahrtsgesellschaft lebten, bis endlich die erwartete Geldsendung aus Europa kam und uns Bewegungsfreiheit gab. So erwarben wir Fahrkarten auf einem Schnelldampfer nach Amerika, allerdings reisten wir nicht in Erster Kajüte, wie bei unserer Fahrt in die Südsee, sondern im Zwischendeck, unter Indern, Chinesen , Malaien. Vor allem Charlotte quälte sich fürchterlich, der Gestank, der Schmutz und der Lärm, die Matratzen, die einem hart erscheinen und doch höchst lebendig sind! Vor allem aber die ständige Angst, als Deutscher enttarnt zu werden.
In Honolulu machten wir Zwischenstation, dann durch die Golden Gate Brücke nach San Franzisko. Von dort ging es mit dem Zug durch die Vereinigten Staaten, von Westen nach Osten, es war eine lange und mühsame Reise auf harten Bänken in vollen Waggons. Die Strecke von Reno bis zum Großen Salzsee verbrachten wir in einem Abteil mit einer Sippschaft von Indianern, vom zahnlosen Ahnen bis zum ebenso zahnlosen Urenkel, und
die ganze Horde betrunken, selbst das Kleinste sog den Schnaps schon mit der Muttermilch ein! Es waren Wilde im übelsten Sinne, wie musterhaft erscheinen demgegenüber
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