Zitronen im Mondschein
flämischen Erde.
Diesmal sah ihn der Wachposten sofort. Ein Pfiff zerriss die Stille der Nacht, dann kamen Sanitäter, luden Sommer auf eine Trage und brachten ihn fort. Seine Arme hingen schlaff zuBoden. Ein braunrotes Blutmuster überzog die Haut wie die archaischen Tätowierungen auf den Unterarmen der Palau-Frauen, von denen Pechstein geschrieben hatte. Ludwig starrte ihm nach. Der Wachposten trat neben ihn.
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte Ludwig, obwohl das nun wirklich die nebensächlichste, die unwichtigste, die dümmste Frage der Welt war.
»Habe Befehl, Sie zum Major zu bringen«, schnarrte der Posten zurück. Es war ein ganz junger Bursche, gerade einmal vier Wochen an der Front. Fleming hieß er, doch auch das war jetzt völlig unwichtig.
Der Bursche zögerte einen Moment lang. Vielleicht dachte er darüber nach, ob er Ludwig festhalten sollte, falls er sich seinem Befehl widersetzte, aber Ludwig zuckte nur mit den Schultern. »Gehen wir! Worauf warten wir noch?«
»Halb elf«, sagte Fleming leise, als sie die Baracke des Kompanieführers erreicht hatten. »Es ist jetzt halb elf.«
Sie waren gerade einmal eine Stunde unten am Fluss gewesen.
Er bekam zwei Wochen Arrest zur Strafe dafür, dass er sich unerlaubt von der Truppe entfernt und zum Fluss gegangen war. »Wenn Sie vernünftig gewesen wären, wäre Ihr Kamerad jetzt unversehrt!«, brüllte Rettel ihn an. »Wenn er stirbt, haben Sie ihn auf dem Gewissen.« Er lief mit großen Schritten vor Ludwig auf und ab und knallte so mit den Hacken, dass der junge Fleming, der immer noch an der Tür stand, jedes Mal zusammenzuckte.
»Man sollte Sie vors Kriegsgericht stellen«, schrie er.
»Jawohl, Herr Major«, murmelte Ludwig, ohne dass die Worte in sein Bewusstsein drangen. Rettel schrie noch eine Weile weiter, bis er es merkte, dass ihm nur Fleming zuhörte, da verlor er das Interesse an der Brüllerei und ließ Ludwig abführen.
Das Arrestlokal war im Keller des ehemaligen Bauernhauses, in dem die Offiziere ihr Quartier aufgeschlagen hatten. DieHolzverschläge, in denen ursprünglich Kartoffeln, Kohle und Steckrüben gelagert worden waren, waren mit Draht und Holzlatten zu Käfigen umgebaut worden. In einem der Abteile saß nun Ludwig, die anderen waren leer. Das schmale Fenster unter der Decke führte zum Hof, abends schien für eine Stunde die Sonne herein und verwandelte die staubüberzogenen Spinnweben unter der Decke in wundersame Skulpturen. Kurz danach wurde es dunkel. Manchmal konnte man den Mond sehen, aber wenn der Himmel mit Wolken bedeckt war, erkannte man nicht einmal seine eigene Hand vor Augen.
Ludwig schlief sehr viel, aber das machte alles nur noch schlimmer. Denn wenn er schlief, dann träumte er. Er träumte von Maria, die bleich und mager vor ihn trat, ihr Körper ausgeblutet und verdorrt wie eine Rosine. »Warum bist du weggelaufen?«, fragte sie. »Du erbärmlicher Feigling.«
Er träumte auch einmal von der Lasker-Schüler, das war erstaunlich, weil er monatelang nicht mehr an sie gedacht hatte und ihre zarte Dichterinnenfigur so gar nicht hierher passte. »Du dummer Junge«, sagte sie zu ihm. Sie saßen wieder in ihrem Hotelzimmer auf der Motzstraße, im Ofen flackerte ein Feuer, und davor saßen zwei Palaufrauen mit tätowierten Unterarmen, die an langen Stöcken Bananen rösteten. »Ich habe dir doch gleich gesagt, dass der Krieg nichts als Unsinn ist und ins Verderben führt.«
»Ja, aber das, was Sommer geschehen ist, ist nicht einmal im Gefecht passiert«, erwiderte er. »Es war meine Schuld.«
»Ach was!« Sie winkte ab. »Wenn sie ihn nicht im Fluss erwischt hätten, hätte es ihn nächste Woche im Kampf getroffen. Glaub mir, ich weiß Bescheid.«
»Sind Sie denn etwa tot?«, fragte er erstaunt.
»Noch nicht«, entgegnete sie traurig. »Aber bald.«
Dann reichte sie ihm ihre Hände, und er sah, dass ihre Finger recht kurz waren, aber kraftvoll und schön, genau wie Marias Hände.
Wenn er wach war, dachte er nur an Sommer, ob er noch lebte und wie es ihm ging. Er fragte den Rekruten, der ihm dasEssen brachte, nach ihm. »Ich weiß es nicht.« Der Rekrut wich seinem Blick aus und leckte sich unbehaglich über das dünne Schnurrbärtchen über seiner Oberlippe. »Ich bin nicht im Lazarett gewesen.«
»Fragen Sie nach und geben Sie mir Bescheid.« Ludwig suchte in seinen Taschen nach Kleingeld, Zigaretten, irgendetwas, das er ihm geben konnte, aber er hatte nichts. »Wenn Sie mir ein Bildchen malen
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