Zitronen im Mondschein
hob er den Kopf, sein Blick begegnete ihrem Blick, und einen Moment lang hatte sie das unsinnige Gefühl, dass er ihr etwas sagen wollte. Aber dann ließ er die schwarze Schnauze wieder auf die gelblich-weißen Beine sinken.
»Du armes Ding«, murmelte Maria, obwohl man mit Füchsen kein Mitleid zu haben brauchte, weil sie einem die Hühner und die Kaninchen aus dem Stall raubten und die Gänse von der Weide. Der Fuchs steckte seine Schnauze zwischen seine Pfoten und klemmte den buschigen Schwanz noch enger an den Körper, als schämte er sich über ihre Anteilnahme.
Sie blieb dennoch eine ganze Weile stehen und sah ihn an. Erst als ein paar Kinder neben sie traten und lachten und lärmten, wandte sie sich ab. Dann sah sie die Frau.
Sie kam aus einem der niedrigen Zelte, richtete sich auf und blinzelte in die Frühlingssonne, dabei wirkte sie, als erwartete sie jemanden. Sie sah ganz anders aus als gestern. Die schwarzen Haare, die so stumpf erschienen waren, funkelten und glänzten in der Sonne wie Metall. Sie hatte sie straff nach oben gekämmt und auf dem Kopf zu einem schweren, kunstvollen Gebilde zusammengesteckt. An den Ohren baumelten goldene Ohrringe, fast bis auf die Schultern. Und ihre Kleidung: die bunte Bluse weit ausgeschnitten und über den Brüsten ein Gewirr aus glitzernden Ketten und Bändern und Anhängern, ein schwingender rüschenbesetzter Rock, der Stoff mit Blumen und Ranken und Pailletten bunt bestickt. Trotzdem erkannte sie Maria auf den ersten Blick wieder.
Die Frau schien Maria auch zu erkennen, wie sie dastand und wartete. Maria atmete tief durch, sie strich mit den Händenüber ihre Bluse, den Rock, obwohl die Frau nicht so aussah, als gäbe sie viel auf ein ordentliches Äußeres. Dann ging sie zu ihr.
»Grüß Gott«, sagte Maria.
»Guten Tag«, gab die Frau zurück. Ihre Stimme klang genauso wie am Tag zuvor, recht dunkel, aber klar und laut. Die schwarzen Augen musterten Maria irritiert.
»Ich wollte …«, begann Maria und brach mitten im Satz ab. Was wollte sie eigentlich? Warum kam ihr die Frau nicht zu Hilfe? Warum ließ sie sie einfach so stehen und stammeln, als ob sie einander nie zuvor begegnet waren?
»Bitte«, sagte die Frau. »Die Tiere findest du dort, und die Vorstellung ist im großen Zelt. In fünf Minuten fangen wir an.« Wieder fiel Maria auf, wie klar und deutlich die Frau sprach. Ohne die Spur eines Dialektes. Sie redete, als ob sie ihre Worte aus einem Buch abläse, und sie betonte auch die Endsilben, als wäre Maria der deutschen Sprache nicht richtig mächtig.
Jetzt wies sie über Marias Schulter zum Zelteingang, wo sich die Besucher bereits in einer langen Schlange aufgestellt hatten. Ein dünner Mann mit einem hohen, bunten Hut und großen Schuhen nahm die Eintrittskarten in Empfang.
»Ich weiß«, sagte Maria. »Ich wollte aber etwas anderes.« So sag doch etwas, flehte sie lautlos. Warum warst du gestern bei uns, was wolltest du von mir? Denn dass es diese Frau war und keine andere, die ihr erschienen war, daran gab es keinen Zweifel.
Die Frau zuckte jedoch mit den Schultern, ein wenig hilflos, als habe sie Marias stummes Flehen gehört, wisse aber nichts damit anzufangen. »Ich muss mich nun vorbereiten«, sagte sie schließlich. Dann wandte sie sich einfach ab und ließ Maria stehen.
Maria saß ganz hinten in der letzten Reihe, kein guter Platz, weil sie sich erst so spät angestellt hatte. Sie suchte Ottilie und Edda und fand sie ganz vorne, in der zweiten Reihe vor der Manege. Sepp und Anton waren nicht dabei, die Schwesternhatten die beiden wohl vor der Vorstellung wie verabredet nach Hause geschickt.
Dieselben Musikanten, die gestern den Umzug angeführt hatten, spielten eine kurze, lustige Melodie, dann eine Art Tusch. Ein dicker Mann im Gehrock betrat die Manege. »Hochverehrtes Publikum«, rief er. Dabei sprach er das »H« nicht aus, sein »E« klang wie ein »Ä«, und sein »R« rollte wie ein ganzer Fuhrpark.
»’och värärrrtes Publikum! Ich prrräsäntiere Ihnän noch nie da gäwäsäna Sänsationen!« Während er weitersprach, wanderten Marias Gedanken zurück zu der seltsamen Frau, die sich ganz offensichtlich nicht mehr an sie erinnerte. Ob sie nach der Vorführung noch einmal zu ihr gehen und ihr merkwürdiges Verhalten ergründen sollte? Unsinn, dachte Maria, sie würde mich nur für verrückt halten. Vermutlich bin ich ja auch verrückt. Ich verliere den Verstand. Ich sehe Dinge, die gar nicht da sind.
Sie fühlte sich
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