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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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aussah.
    Anscheinend konnte sie Gedanken lesen, denn während Fred dem Padre half, aus dem Sessel aufzustehen, griff sie wieder nach meinen Händen, sah mir in die Augen und sagte: »Lass dich von Fred nicht zur Glucke machen. Einer von der Sorte reicht mir völlig. Und richte Henry Royster aus, ich hätte gesagt, er sei der zweitreizendste Mann, der je gelebt hat.«
    Reizend war nun wirklich kein Wort, das mir zu Henry eingefallen wäre, und ich könnte schwören, dass sie mir auch diesen Gedanken ansah, denn sie zwinkerte mir zu und sagte: »Du wirst schon noch sehen.«
    »Können Sie Gedanken lesen?«, fragte ich sie.
    Sie nahm mein Gesicht fest zwischen ihre kühlen Hände. »Schätzchen«, flüsterte sie, »dein Gesicht ist wie Glas.«
    In Bessies Nähe würde ich mich in Acht nehmen müssen.
    Fred und ich fuhren den Padre zurück zu seiner Kirche, die ein kleines Stück oberhalb von Henrys Haus lag. Es war eine weiße Holzkirche mit Turm und einem Friedhof daneben. Ein paar alte Damen, die gerade dabei waren, Blumen an den Urnengräbern zu ordnen, sahen auf und winkten. Der Padre schüttelte sich und rutschte ein Stück tiefer auf seinem Sitz. »Grässlich«, sagte er kopfschüttelnd. »Ein Schlag ins Gesicht des Schöpfers.«
    »Was?«, fragte ich.
    »Plastikblumen. Scheußliche Dinger.«
    Er war wirklich ein seltsamer Heiliger. »Machen Sie einfach die Augen zu …«, erinnerte ich ihn.
    »Ganz recht«, sagte er schmunzelnd. »Gehen wir hinein, dann muss ich sie nicht sehen.«
    Die Kirche war leer und ganz still. Der Padre zeigte mir das Kreuz, das Henry für den Altar gemacht hatte, und es war wirklich das Ungewöhnlichste, was ich je gesehen hatte. Es hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit den Kreuzen in Ritas Kirche. Es bestand aus zwei gebogenen silbernen Metallteilen, die auf einem schlichten Kreuz aus dunklerem Metall angebracht waren. Die leichteren Metallteile sollten die ausgestreckten Arme des Herrn Jesus und seinen verrenkten Körper darstellen, erklärte mir der Padre, und bei aller Einfachheit sei die Darstellung doch perfekt. Die Metallfigur schien zu sterben, aufzusteigen, zu trösten und sich sehnsüchtig nach oben zu strecken, alles zugleich.
     
    In diesem Moment knallte die Tür von Henrys Atelier zu und unterbrach meine innere Wiederholung des Nachmittags, aber ich ließ mir die Laune nicht verderben. Ich hatte eine Wette gewonnen, meine Fingerabdrücke bei der Polizei gelassen, bei einer Predigt geholfen und eine Gedankenleserin kennengelernt – alles an einem einzigen Tag. Wenn Henry ein alter Griesgram sein wollte, meinetwegen. Er musste ja bloß die Augen zumachen, schon wäre ich weg.
    Henry hämmerte weiter, aber ich schlief drüber ein. Das Erste, was ich wieder mitbekam, war Telefonklingeln. Jemand hatte bei mir das Licht ausgemacht, die Decke um mich herum festgestopft und mein Notizbuch und den Stift auf das Nachttischchen gelegt, neben ein Glas Wasser. Ich stand leise auf. Aus dem Fenster sahich, dass aus Henrys Schlafzimmer noch immer Licht auf den Rasen fiel, und von oben hörte ich seine schläfrige Stimme. Ich stieg die Treppe hinauf und blieb lauschend im dunklen Flur stehen.
    »Ich weiß, Susan, ich hab deine Nachricht erhalten … doch ja, aber mir ist etwas Dringendes dazwischengekommen, darüber habe ich das mit deinem Scheck einfach vergessen. Tut mir leid … Hör mal, Susan, es ist spät. Es war ein langer Tag, ich bin jetzt einfach zu müde, um noch hinzufahren. Was hältst du davon: Ich gebe zu, dass ich ein mieses, nichtsnutziges Scheusal bin, und bringe den Scheck gleich morgen zur Post. Wie wäre das?«
    Er knallte den Hörer auf die Gabel, und ich trat leise bei ihm ein. Henry schob sich die Brille auf den kahlen Schädel und rieb sich die müden Augen. Er lag auf seinem Bett, in Jeans und seinem Arbeitshemd, ein aufgeschlagenes Buch auf der Brust. Über die Bettdecke verstreut lagen Ordner und Papiere und die Telefonnotizen, die Fred ihm gegeben hatte. Henry sah auf, und als er mich da stehen sah, schob er die Brille wieder auf die Nase.
    »Hat dich das Klingeln geweckt? Tut mir leid«, sagte er.
    »Bist du das wirklich?«
    »Was?«
    »Ein mieses, nichtsnutziges Scheusal.«
    Er schnaubte. »Nach Meinung meiner Exfrauen sicher.«
    »Wie viele Frauen hattest du?«
    »Drei.«
    »Und alle drei haben sich von dir scheiden lassen?«
    »Nur zwei.«
    »Und wieso?«
    Henry zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht so leicht, mit mir zu leben.«
    »Mit mir auch

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