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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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die Diskussion beendet«, sagte Henry. »Wir haben beide unsere Arbeit. Ich gehe jeden Morgen ins Atelier, du gehst in die Schule. Selbst wenn sie dir da nichts mehr beibringenkönnen, wird es dir trotzdem guttun, mit anderen Kindern zusammen zu sein.«
    »Du verbringst doch auch mit niemandem Zeit außer mit mir und Fred und deinen dummen Skulpturen!«
    »Ich habe nie behauptet, ein Vorbild zu sein. Aber ich bin jetzt für dich verantwortlich. Und deshalb bringe ich dich morgen früh um halb acht zur Schule.«
    »Du hast versprochen, mich nie zu verlassen!«
    »Jemanden verlassen und für seine Erziehung sorgen sind durchaus verschiedene Dinge.«
    Ich verschränkte die Arme vor der Brust und kniff die Augen zusammen. »Ich fühle mich nicht gut. Ich habe das Gefühl, dass ich gerade dabei bin, eine tödliche und hoch ansteckende Krankheit zu bekommen.«
    Damit schien Henry gerechnet zu haben. »Mit so etwas kenne ich mich aus.«
    Er nahm seine Arzttasche vom obersten Bord im Flurschrank, schob mir ein Fieberthermometer in meinen sechsunddreißigkommafünf Grad warmen Mund, maß meinen völlig normalen Blutdruck und prüfte mit einem eiskalten Stethoskop meinen wütenden Herzschlag.
    »Ich lasse meine Tasche mal hier stehen, für den Fall, dass du dich morgen früh nicht gut fühlst«, sagte er, und ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht auf ihn loszugehen.
    »Ich hab noch ein bisschen Papierkram zu erledigen«, sagte er und ging in sein Arbeitszimmer. Die Tür ließ er offen, damit er mich im Blick hatte.
    »Ich haue ab«, flüsterte ich, als ich wusste, er konnte mich nicht mehr hören. »Und du wirst mich nicht finden.«
    Ich blieb in meinem Zimmer, solange er arbeitete. Gegen elf schlich ich mich nach unten. Henry saß an seinem PC, spitzteaber die Ohren, als die Treppe knarrte. Ich rannte sofort wieder hoch, schloss meine Zimmertür, setzte mich schmollend auf die Fensterbank und plante meine Flucht. Ich musste an den Kater draußen im Gestrüpp denken. Beide hatten wir reichlich Erfahrung darin, uns unsichtbar zu machen. Henry hatte noch nicht begriffen, mit wem er es zu tun hatte. Aber er würde es schon noch mitkriegen.
    Gegen Mitternacht stieg Henry die Treppe hoch, ging aber noch nicht gleich schlafen. Seine Gestalt zeichnete sich schwarz vor dem Licht ab, das aus seinen Fenstern auf den Rasen hinter dem Haus fiel. Sein riesiger Schatten war direkt gruselig. Ich stellte mir vor, ich sei eine Gefangene im Henry-Royster-Hochsicherheitsgefängnis, das mit allem ausgestattet war – Wachtürmen, Flutlichtanlagen, Sirenen und bösartigen Wachhunden. Außerdem hatte der Sheriff meine Fingerabdrücke. Meine Lage war hoffnungslos.
    Vor Henry hatten schon andere versucht, mich zur Schule zu schicken, angefangen mit Lester. Damals war ich sechs. Vierzehn Stiche und ein perfekter, bleibender Abdruck meiner Zähne in seinem rechten Arm hatten ihm klargemacht, dass er im Irrtum war. Eineinhalb Jahre später überzeugten sechzig Prozent meiner Wetteinnahmen beim Pferderennen Manny davon, dass die Schule des Lebens genauso gut war wie eine formale Schulbildung. Charlie gefiel es, dass ich seiner Mutter vorlas, und er fand, dass ich eine Menge dabei lernte. Von den späteren Kerlen hat sich nie wieder einer dafür interessiert, ob ich zur Schule ging oder meine Vormittage lesend und schreibend zu Hause verbrachte und meine Nachmittage und Abende in der Bücherei. Sie waren zufrieden, wenn die Hausarbeit gemacht war, und von Mama war in dieser Hinsicht nichts zu erwarten. Alle hatten sie als Kinder die Schule geschwänzt, wieso ich dann nicht auch?Mann, die meisten fragten sich ja nicht mal, wo ich steckte, außer wenn sich das Geschirr im Becken stapelte, die Schublade mit ihrer Unterwäsche leer war oder der Kaffee gegen den morgendlichen Kater fehlte.
    Henry war anders. Er hatte Geld und Verstand und außerdem Dokumente und die fixe Idee, dass er für mich zuständig und verantwortlich war. Auch meine gesamten Ersparnisse und ein paar Bisswunden würden an dieser Einstellung nichts ändern.
    Ich konnte nur hoffen, dass er endlich einschlafen würde. Dann würde ich die Scharniere der Haustür mit Salatöl schmieren und mich aus dem Haus und in den Wald schleichen. Aber das Licht bei Henry ging und ging nicht aus. Meine Augenlider wurden schwer wie Steine. Ich setzte mich auf meine Fensterbank, richtete mich kerzengerade auf, versuchte mich wachzuschütteln und kniff mir in die Backen, bis sie brannten. Es half

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