Zone One: Roman (German Edition)
nahm sich Mark Spitz eine kleine Auszeit. Wer weiß? Wenn alles anders gelaufen wäre, hätte er vielleicht in ebendieser Kanzlei eine Stelle bekommen, sobald er die mit einem juristischen Examen verbundenen Hindernisse bewältigt hätte. Er hatte gerade Vorbereitungskurse absolviert, als der Vorhang gefallen war, und sich keine Gedanken darum gemacht, irgendwo unterzukommen, Examen zu machen oder hinterher irgendeinen Job zu kriegen. Das amerikanische Standardprogramm hatte ihm nie Probleme bereitet, und er hatte sämtliche Hürden seiner jeweiligen Lebensphasen von der Vorschule über die Junior High bis zum College mit beharrlicher Kompetenz und kaum einem Ausschlag in Richtung Außergewöhnlichkeit oder Versagen erfolgreich gemeistert. Er besaß ein seltsames Talent für Pflichtübungen. Schon nach zwei Tagen Kindergarten beispielsweise hatte er ohne viel Aufhebens den Grad von Sozialisation erreicht, der für seine Altersgruppe und sein sozioökonomisches Milieu als angemessen galt (Teilen mit anderen, kein Beißen, ein fast schon beseeltes Verinnerlichen der Anweisungen von Autoritätspersonen). Er schaffte einen entwicklungspsychologischen Meilenstein nach dem anderen, als wäre jedes Zucken trainiert. Hätten Erziehungsforscher seinen Aufenthaltsort gekannt, hätten sie ihre helle Freude an ihm gehabt, und sie hätten ihn durchs Fernglas beobachtet und Buch geführt, während er in seinen anonymen Mühen ihre Daten und Theorien bestätigte. Er war ihr typischer Vertreter, er war ihr exemplarisches Beispiel, er war ihr Durchschnittstyp. Und die Herren in dem schwarzen Kleinbus, der in diskretem Abstand auf der anderen Straße geparkt war, signalisierten ihm begeisterte Zustimmung. In dieser Welt jedoch bestand sein einziger Lohn in jener Leere, die mit den meisten menschlichen Bemühungen einhergeht und mit der wir alle wohlvertraut sind. Seine Leistungen, wenn man sie denn so nennen konnte, landeten auf der Müllhalde des Unbesungenen.
Mark Spitz hielt die Augen offen und suchte, schon im zarten Alter ein Überlebenskünstler, seine Umgebung nach Hinweisen ab. Jeder Interaktion lag ein Code zugrunde, und er stellte sich darauf ein. Mühelos passte er sich der Bewertung durch Schulnoten an, oberster Maßstab dafür, wie gut man mit willkürlichen Prüfungen zurechtkommt. Er war auf die Note Zwei abonniert, oder die Note Zwei entschied sich für ihn: sie war seine Heimat, und weder in der High School noch im College verirrte er sich je über die Grenze. Sein Los jedenfalls stand unwiderruflich fest. Weder machte man ihn zum Mannschaftskapitän, noch wählte man ihn als letzten. Nachsitzen zu müssen und ausgezeichnet zu werden vermied er gleichermaßen souverän. Im Gefolge einer Unzahl erbitterter Gipfelgespräche zwischen Eltern und Lehrern hatte Mark Spitz’ High School im Geiste universeller Selbstachtung die Jahrbuch-Sitte abgeschafft, den Wahrscheinlichsten-Kandidaten-für dies-oder-jenes zu nominieren. Doch Marks Bezeichnung wäre »Wahrscheinlichster Kandidat dafür, niemals zum wahrscheinlichsten Kandidaten für irgendetwas ernannt zu werden« gewesen, und das war keine Kategorie. Seine Fähigkeiten lagen im geschickten Durchwursteln, wobei er niemals glänzte und niemals durchrasselte, sondern jeweils nur genau das tat, was erforderlich war, um über das nächste willkürliche Hindernis des Lebens hinwegzukommen. Das war seine überragende Spezialität.
So weit war er damit gekommen.
Die Frühstückspaste vom Morgen stieß ihm auf, laut den winzigen Verheißungen auf der Tube eine Mixtur, mit der ein Ernährungswissenschaftler seine Vorstellung davon verwirklicht hatte, wie Mamas Pfannkuchen mit frischen Blaubeeren schmeckten. Seine Hand fuhr zum Mund, bevor ihm einfiel, dass er allein war. Die Anwälte hatten vier Etagen gemietet – ein schicker Bau –, und nach dem Umfang ihrer Renovierung zu urteilen, war es ihnen nicht allzu schlecht ergangen. Die Stockwerke darüber waren in trostlose, bescheidene Büros aufgeteilt, mit tristen Aquarellen an den schwammigen Rigips-Wänden der Wartezimmer und den gleichen abgetretenen kotzrosa Fliesen auf dem Boden. Erschwingliche Mieten hatten für eine Gruppe unterschiedlicher Mieter gesorgt, so vielfältig wie die Ansammlung von Fahrgästen in einem durchschnittlichen Subwaywaggon zur Rushour. Seine Einheit durchkämmte Consultingfirmen mit flotten, geschäftstüchtig wirkenden Namen. Sie durchstöberten die Lagerräume von Prothesenhändlern. Sie
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