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Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colson Whitehead
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Ehrenurkunden hingen nach wie vor sicher an den Wänden, und die Porträts der großen Tiere verewigten die kalkulierten Posen eines Nachmittags. Das alles war geblieben.
    Vom anderen Ende der Etage hörte er drei Schüsse in vertrautem Stakkato – Gary, der eine Tür aufschoss. Fort Wonton hatte sie aus naheliegenden Gründen mehrfach eindringlich ermahnt, fremdes Eigentum nach Möglichkeit nicht mutwillig zu beschädigen, zu zerstören oder auch nur schief anzusehen. Der Einfachheit halber druckte Buffalo Verbotskärtchen – laminierte Anweisungen in Bildform, die die Angehörigen der Einheiten ständig bei sich zu tragen hatten. Das kaputte Fenster mit dem roten Kreis und dem diagonalen Strich mittendurch lag ganz oben auf dem Stapel. Gary konnte sich jedoch nicht beherrschen, zum Teufel mit künftigen Mietern und dem Großen Plan. Warum die Klinke benutzen, wenn man das Ding hochgehen lassen konnte? »Sie können sie ja reparieren, wenn sie einziehen«, sagte Gary, während sich der Rauch des C-4 verzog, mit dem er die Kühlraumtür eines italienischen Restaurants pulverisiert hatte. Sein verrücktes Grinsen. Als wäre das Aufräumen nach einer wilden Ballerei das gleiche wie die Ausbesserung von Löchern im Gips, wo die Vormieter ihre Schwarzweiß-Landschaften aufgehängt hatten. Gary entmaterialisierte die halb geschlossenen Vorhänge von Umkleidekabinen in Kaufhäusern, verwandelte teure japanische Raumteiler in Konfettiwirbel, und wehe der Toilettenkabine mit klemmenden Türangeln.
    »Hätte ja einer von denen sein können, der sich zu erinnern versucht, wie das mit dem Pinkeln geht«, erklärte Gary.
    »Von so einem Fall habe ich noch nie gehört«, sagte Kaitlyn.
    »Wir sind hier in New York, Mann.«
    Kaitlyn billigte ihm einen unnötigen Akt von Zerstörung pro Etage zu, und Gary passte sich entsprechend an, befleißigte sich sogar altmodischer Prinzipen von Spannungsaufbau, was den Zeitpunkt seiner Attacken anging. Sie wussten nie, wann er als Nächstes zuschlagen würde. Gerade hatte er seine Wahl für die vierzehnte Etage getroffen.
    Mark Spitz kam in die Gänge. Gary war ganz in der Nähe, und er wollte einen beschäftigten Eindruck machen, um sämtlichen dummen Sprüchen über sein Arbeitsethos die Spitze zu nehmen. Er wandte sich vom Fenster ab und erhaschte flüchtig einen Zipfel vom Traum der vergangenen Nacht – er war auf dem Land, gewelltem Ackerland, vielleicht in Happy Acres –, bevor dieser sich entzog. Er schüttelte ihn ab. Er trat die Tür zur Personalabteilung ein, dachte: »Vielleicht komme ich wieder und bewerbe mich hier um eine Stelle, wenn das alles vorbei ist«, und erkannte, dass er einen Fehler gemacht hatte.
    Das Problem war nicht die Tür. Nach so langer Zeit in der Zone wusste er, wo genau man auf Türen mit Codetastatur draufhauen musste, damit sie umgehend aufsprangen. Der Fehler lag darin, dass er den vorherrschenden Illusionen erlegen war. Der Pandemie von Phönie-Optimismus zum Opfer gefallen war, vor der es heutzutage kein Entkommen gab und die einem das Atmen schwermachte, eine eigenständige Seuche. Sie fielen sofort über ihn her.
    Sie waren von Anfang an dort gewesen, die vier. Vielleicht war eine unten auf dem Bürgersteig von »irgendeinem Spinner«, wie der farbige großstädtische Euphemismus lautete, angegriffen und, nachdem man sie in der unterfinanzierten lokalen Notfallambulanz genäht hatte – haben Sie Ihre Versicherungskarte dabei? –, nach Hause geschickt worden, ehe man das Wesen der Katastrophe begriff. Dann war sie vertiert, und eine Kollegin hatte Glück gehabt, es rechtzeitig nach draußen geschafft, die Tür abgeschlossen und ihre Büronachbarinnen sich selbst überlassen. Irgendeine Variante dieser Geschichte. Niemand war ihnen zu Hilfe gekommen, weil jeder mit seinen eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt hatte.
    Er war der erste Mensch, den die Toten seit Beginn der ganzen Sache zu Gesicht bekamen, und die ehemaligen Mitarbeiterinnen der Personalabteilung waren am Verhungern. Nach so langer Zeit bestanden sie nur noch aus einer dünnen, über Knochen gespannten Fleischmembran. Längst waren ihre Röcke ihnen von den geschrumpften Hüften gerutscht und lagen zusammengeknüllt auf dem Boden, und die dunklen Jacken ihrer praktischen Kostüme waren von gezackten Blutspritzern und geronnenen Klumpen noch dunkler gefärbt und steif geworden. Zwei hatten irgendwann in den langen Jahren, in denen sie auf der Suche nach einem Ausgang in dem Raum

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