Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colson Whitehead
Vom Netzwerk:
Die altertümlichen Wassertürme, die auf halsstarrigen alten Vorkriegshäusern lauerten und, weiter oben, die wuchtigen Klimazentralgeräte, die mit ihrem Rohrgeschlängel auf den Hochhäusern hockten und wie ausgetretene Eingeweide glänzten. Die Teerpappenschädel von Mietskasernen. Manchmal erspähte er einen auf Kies zusammengeklappten, unzeitigen Liegestuhl, der scheinbar von der Straße heraufgeweht worden war. Wer war sein Besitzer? Dieser Mensch markierte damit in den Ecken der Stadt sein Revier. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er die Slogans, die an Treppenhauseingängen entlanggaloppierten, die Leuchtfarbendrohungen und Pidgin-Manifeste, Decknamen ohnmächtiger Revolutionäre. Jalousien und Vorhänge waren offen, halb offen, geschlossen, Ausstanzungen in einer Lochkarte, entzifferbar nur mittels untergegangener Großrechner, die in den Ablagerungen wilder Mülldeponien steckten. In den Fenstern waren Körperteile von Bürgern ausgestellt, arrangiert von einem Kurator mit einem Sinn für Disparates: die gespreizten Nadelstreifenbeine eines urbanen Golfspielers, der in ein Sieb einlochte; ein halber Frauenoberkörper, in einem türkisfarbenen Blazer, gesehen durch ein Trapezoid; eine auf einem Titanschreibtisch zitternde Faust. Hinter dem höckrigen Glas eines Badezimmers bewegte sich ein Schatten, durch den Schlitz glitt Dampf.
    Er erinnerte sich, wie es früher war, an die Gepflogenheiten der Skyline. Überall auf der Insel stießen Gebäude aneinander, demütigten Kümmerlinge durch Vertikalität und Ehrgeiz, schmollten im Schatten des jeweils anderen. Es herrschte der Sachzwang, Amtszeit auf Amtszeit. Die alten Herren von gestern, mit stattlichen Namen und ehedem berühmten Architekten als Geburtshelfern, wurden vom Ruß der Verbrennungsmotoren und dem technischen Fortschritt im Bauwesen beleidigt. Die Zeit meißelte an eleganter Steinmetzarbeit, die als Staub und Splitter und Brocken auf den Bürgersteig rieselte oder fiel. Hinter den Fassaden wurde ihr Innenleben nach den neuen Nützlichkeitstheorien der nächsten Ära verhunzt, umgestaltet, neu verkabelt. Klassische Sechszimmerwohnung wurde zu Studiowabe, Sweatshop-Etage zu beengtem Großraumbüro. In jedem Viertel wartete das Unvollkommene ihrer Art auf die Abrissbirne, und ihre Gebeine wurden eingeschmolzen, um ihren Nachfolgern zu helfen, sie zu übertreffen, Stahl zu Stahl. Welle auf Welle wuchteten sich die neuen Gebäude aus dem Schutt und schüttelten wie Einwanderer die Vergangenheit ab. Die Adressen blieben dieselben, genau wie die dürftigen Philosophien. Es war nicht anderswo. Es war New York City.
    Der Junge war hin und weg. Seine Familie schaute alle paar Monate bei Onkel Lloyd vorbei. Er trank das Selters, er sah sich Horrorfilme an, er war ein Wächter am Fenster. Das Gebäude war ein mit blauem Metall armiertes Totem, ein Wechselbalg im Nest alter fahrstuhlloser Häuser. Das Stadtplanungsamt hatte die Schmiergelder eingesteckt, und hier war er nun und schwebte über der spitz zulaufenden Insel. Darin lag eine Botschaft, wenn er sich nur die Sprache beibringen konnte. An verregneten Besuchstagen waren die Oberflächen der Gebäude abgestumpft und blank, so wie an diesem Tag, Jahre später. Da die Bürgersteige sich dem Blick entzogen, beschwor der Junge eine unbewohnte Stadt herauf, in der hinter all den Quadratkilometern von Glas niemand wohnte, niemand mit Familienmitgliedern in Wohnzimmern festsaß, die mit geschmackvollen, statusbestätigenden Katalogmöbeln gefüllt waren, und sämtliche Fahrstühle wie kaputte Marionetten an langen Kabeln hingen. Die Stadt als Geisterschiff auf dem letzten Ozean am Rand der Welt. Es war eine herrliche, komplizierte Illusion, Manhattan, und an bedeckten Tagen sah man aus schiefen Winkeln, wie sie sich auflöste, und war gezwungen, das zarte Wesen so zu betrachten, wie es wirklich war.
    Wenn man ihn an einem dieser Nachmittage seiner Kindheit gefragt hätte, was er einmal werden wolle – mit einem leichten Klaps auf die Schulter, während die Familienkutsche sich in die Schlange vor dem Midtown Tunnel einfädelte oder sie auf dem Long Island Expressway ihrer Ausfahrt entgegenbrummten –, hätte er nichts zu nennen gewusst. Sein Vater hatte als Kind Astronaut werden wollen, doch der Junge war immer bodenständig gewesen, ein Kieselkicker. Sicher war er sich nur darin, dass er in einer schicken Bleibe in der City wohnen wollte, etwas gut Bestücktem mit weißen Wänden und ausgestattet mit

Weitere Kostenlose Bücher