Zorn: Thriller (German Edition)
Selbstmord. Falls er nun überhaupt tot ist.«
»Die erhängte Leiche war ja wohl ein deutliches Zeichen ...«, entgegnete Hjelm.
»Okay, möglicherweise«, pflichtete Söderstedt ihm bei, »aber kein Zeichen für einen Selbstmord. Ich garantiere dir, dass er vorgetäuscht ist.«
»Aber es gibt nichts, was darauf hindeutet«, beharrte Hjelm. »Das ist doch der typische Niedergang eines erfolgreichen Mannes. Scheidung, Alkohol, Workaholic-Symptome, Einsamkeit, all das, wovon so viele von uns bedroht sind.«
»Von uns?«, fragte Söderstedt.
»Von uns weißen heterosexuellen Männern mittleren Alters«, erklärte Hjelm.
»Seit wann sind diese stereotypen Allgemeinplätze eigentlich wieder salonfähig?«, brummte Söderstedt. »Warum lässt du mich nicht einfach meinen Calvados genießen?«
»Weil wir so alt nun auch wieder nicht sind«, antwortete Paul Hjelm und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Nun komm schon, Arto. Im Grunde stoßen wir doch in diesem verdammten Job jeden Tag auf etwas Neues und Überraschendes. Und auch wenn es sich selten um positive Überraschungen handelt, sind Überraschungen etwas Gutes. Man lernt aus Überraschungen. Man lernt unentwegt.«
»Du bist doch ein unverbesserlicher Optimist, Paul. Höchstwahrscheinlich, weil du ein Spätzünder bist, immerhin hattest du deine Teenagerzeit ja erst in der A-Gruppe. Mehr als dreißig Jahre haben deine Fähigkeiten brachgelegen, und dann bist du plötzlich aufgeblüht. Alle Möglichkeiten dieser Welt haben sich dir eröffnet. Während ich an der Universität Uppsala akademische Abhandlungen über theoretischen Marxismus verfasst habe, warst du ein desillusionierter, träger Kriminalpolizist in Alby. Und dann hast du mich möglicherweise überholt. Aber wohlgemerkt nur möglicherweise.«
»Worüber?«
»Wie bitte?«
»Du hast Abhandlungen über theoretischen Marxismus geschrieben?«
»Ja, den üblichen Aufsatz ›Marxismus im Alltag‹«, gab Söderstedt zu und stellte enttäuscht fest, dass sein Calvadosglas leer war. «Wir müssen noch einen bestellen«, meinte er und winkte der Bedienung.
»Denk daran, dass morgen Montag ist«, sagte Hjelm.
»Soll ich das so verstehen, dass du keinen mehr möchtest?«
»Nein.«
»Gut.«
Es wurden zwei volle Gläser gebracht. Nach einer Weile genussvollen Schweigens sagte Arto Söderstedt etwas nachdenklicher: »Ich hatte die eine Seite gesehen. Eine Welt, in der Kapitalismus und Kriminalität ganz einfach ein und dasselbe sind. In der es nur darum geht, sich an Macht zu berauschen, an dem Gefühl, stärker zu sein als andere, andere dominieren zu können. In der Mangel an Empathie nicht nur Voraussetzung für den Erfolg ist, sondern absolut bewundert wird. Wer am wenigsten Mitgefühl zeigt, gewinnt. Ich habe für diesen Typus Mensch gearbeitet und war das Sprachrohr solcher Leute: der junge Staranwalt, dem es immer gelang, ihr Handeln logisch und in der jeweiligen Situation notwendig erscheinen zu lassen.«
»Ich erinnere mich«, nickte Paul Hjelm. »In Finnland. Das ist eine ganze Weile her ...«
»Ja, aber es ist unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt. Irgendwann begann das alles – diese Welt um mich herum und nicht zuletzt ich selbst –, nach Verwesung zu stinken. Und dennoch ist es eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Seither habe ich nämlich eine ziemlich ausgeprägte Sensibilität für Menschen mit ebendiesem Mangel an Mitgefühl entwickelt. Denn Empathiemangel kommt ja nicht nur in der Wirtschaft vor – auch wenn er dort am wirkungsvollsten ist –, sondern genauso im Krankenhaus, in Schulen, sozialen Einrichtungen und in der Entwicklungshilfe, in der Kirche und natürlich bei der Polizei. Überall dort, wo die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, eine Funktion erfüllt.«
»Auch unter Marxisten?«, fragte Paul Hjelm lächelnd.
»Nicht zuletzt dort«, antwortete Arto Söderstedt. »Als diese Welt der Reichen und Mächtigen für mich anfing, nach Verwesung zu stinken, wollte ich mein Leben neu ausrichten. Ich hielt es plötzlich für dringend notwendig, dass man diesen Menschen Einhalt gebot und das politische System nicht weiter diese Empathietoten belohnte und das öffentliche Leben steuern ließ. Daher landete ich am linken politischen Rand und schrieb sogar einige radikale politische Artikel für linksgerichtete Zeitschriften.«
»Und dann wurdest du Polizist«, merkte Hjelm an.
»Ja, ja, das war vielleicht nicht der einfallsreichste Schachzug in
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