Zorn: Thriller (German Edition)
Toten bedeuten.
Auf der schmelzenden Schneedecke zeichnen sich seltsame Spuren ab. Blutrote Streifen. Er kann nicht länger hinschauen. Muss sich abwenden.
Deda läuft weiter in Richtung Wasser. Es muss hinter dem unerwartet dichten Wäldchen liegen. Er lugt zwischen den Zweigen hindurch. Das Wasser ist pechschwarz. Hier sind ebenfalls Menschen, allerdings nicht so viele wie auf der anderen Seite. Einige von ihnen haben Treibholz gesammelt und binden die jämmerlichen Stöcke mit Rindenstreifen zu einem Floß zusammen. Aber wohin wollen sie fliehen? Geradewegs in die Wildnis?
Aber es sind nicht die Floßbauer, die Dedas Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es sind die Menschen, die am Ufer sitzen oder kauern. Neben vielen liegen dreckig verschmierte Mützen und Hüte, ihr Erbrochenes hat einen ähnlichen Farbton. Und Deda begreift. Er begreift nur allzu gut.
Wenn man das Flusswasser nicht trinken und auch nicht abkochen kann, weil man kein anständiges Feuer in Gang bekommt und es keine geeigneten Kochgefäße gibt – wie sollen sie dann überleben? Ohne Wasser?
Er ist so durstig.
Jetzt ist er unten am Wasser angelangt. Er betrachtet das schwarze Flusswasser. Und lässt langsam das Mehl in die Fluten rieseln. Beobachtet, wie sich unter Wasser eine wogende Wolke ausbreitet, die sich langsam auflöst und immer unsichtbarer mit dem Strom davontreibt. Eine letzte Hoffnung, die sich verflüchtigt.
Er muss Schnee sammeln. Aber worin? In seiner Mütze?
Der Schnee schmilzt rasch. Auf dem Boden verwandelt er sich bereits in braune Schmiere.
Deda muss zurück zu Faina. Schnee für sie sammeln. Sie retten. Die Mutter heraufbeschwören, die er nie gehabt hat.
Auf dem Weg zurück durch das Wäldchen hört er einen unbekannten Laut. Eigentlich dürfte es inzwischen nicht mehr so viele unbekannte Geräusche geben – in den vergangenen Wochen hat er nahezu alles gehört, was man hören kann. Aber dies hier hat er noch nie zuvor gehört.
Es ist unmöglich zu beschreiben.
Als Deda ein paar Zweige zur Seite schiebt, steht er plötzlich direkt vor einem Mann. Merkwürdigerweise ist es nicht der wie wahnsinnig stierende Blick, vor dem er zusammenfährt. Denn normalerweise hätte der ihn zu Tode erschreckt. Doch er ist nichts gegen das andere – das, was von seinem immer noch kauenden Mund herunterrinnt.
Dieses Blut, das dem Mann übers Kinn und den Hals hinunterläuft.
Der Mann weicht ihm aus und rennt an ihm vorbei, tiefer in den Pappelhain hinein. Da erblickt Deda den zweiten Leichenhaufen. Und die Bewegungen um ihn herum. Menschen, die darin herumwühlen. Menschen, besudelt vom Blut anderer. Menschen, die aufgehört haben, Menschen zu sein.
Deda wird von eiskalter Angst erfasst. Und von einer Befürchtung.
Er rennt los. Rennt, wie er noch nie zuvor gerannt ist. Es ist nicht weit bis zum anderen Ufer – der Weg war so kurz –, aber der Rückweg dauert unendlich lange. Jeder Atemzug schmerzt, und seine mageren Beine tragen ihn kaum mehr. Der Mangel an Nahrung und Flüssigkeit holt ihn ein, und die Welt um ihn herum wird träge und diffus. Nur seine Befürchtung, die ist real.
Der Himmel betrachtet ihn mit seinem grauen Auge.
Noch weit entfernt sieht er nun die Decke, die fürsorgliche Menschen Faina heute Morgen um die Schultern gelegt haben. Zwar sieht er ihr hübsches hellgrünes langes Kleid nicht, doch als er etwas näher kommt, meint er, ihre blau gefrorenen Füße unter der Decke hervorlugen zu sehen.
Ja, denkt er, und an dieses »Ja« wird er sich im Augenblick seines Todes erinnern.
Ja, Faina ist unversehrt.
Schließlich hat er den Waldrand fast erreicht. Er sieht die Füße. Es sind tatsächlich ihre Füße. Er verschließt die Augen vor dem Grau des Himmels. Dankt den höheren Mächten. Er wird sie nicht wieder verlassen.
Nie wieder.
Aber mit der Decke stimmt irgendetwas nicht. Hat Faina sich darin eingewickelt? Wahrscheinlich. Ihr war schließlich kalt. Aber er kann ihren Kopf nicht sehen. Ihre blonden Haare.
Jetzt ist er am Waldrand angekommen. Die Decke erscheint ihm immer seltsamer. Sie ist so platt. Und keine Spur von dem hellgrünen Kleid. Aber die Füße sind jedenfalls da. Die blau gefrorenen Füße ragen unter der Decke hervor.
Mit letzter Kraft stürzt er zu ihr und hebt die Decke an. Das kühle beobachtende Himmelsauge ist grauer als je zuvor.
Faina ist weg. Lediglich ihre Füße liegen da. Sie baden in Blut.
Er kann es nicht begreifen, fällt auf die Knie und starrt vor sich hin. Dann
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