Zorn: Thriller (German Edition)
gezwungen hat, sich zu warm anzuziehen. »Man weiß nie, was im Leben auf einen zukommt«, hat sie stets gesagt.
Großmutter. Er fragt sich, was sie nun denkt, was sie tut. Was sie glaubt, dass passiert ist.
Ob sie noch Tränen übrig hat.
Die Nacht wird hart, sehr hart. Deda setzt sich inmitten einer ruhigen Gruppe, die sich etwas abseits, oben am Waldrand, versammelt hat. Sie hocken eng beieinander, und er versucht bei dem Schneesturm so viel wie möglich von der Wärme der anderen abzubekommen. Wahrscheinlich gibt er ebenfalls ein wenig ab, aber er merkt es nicht.
Neben ihm sitzt eine blonde Frau in einem auffälligen hellgrünen, bodenlangen Kleid, als hätte man sie während der Pause in der Oper aufgegriffen. Seine Mutter wäre jetzt in ihrem Alter, wenn sie den Mut gehabt hätte weiterzuleben. Sie heißt Faina, und sie unterhalten sich leise, bevor er an ihre Schulter gelehnt einschläft. Als die Dämmerung einsetzt, hat er dennoch nicht das Gefühl, geschlafen zu haben.
Fainas Oberkörper ist erschreckend kalt. Ihr hellgrünes Kleid ist fast vollständig mit Schnee bedeckt. Erschrocken schreit er auf, er hat bereits genügend Tote gesehen. Aber sie bewegt sich, sie wimmert. In dem Moment sieht er es.
Fainas bloße Füße sind über Nacht am Boden festgefroren.
Ein paar Leute helfen ihr loszukommen. Sie graben, scharren und befreien sie. Jemand holt von irgendwoher eine Decke, die um ihre Schultern gelegt wird. Deda wärmt ihre Füße an seinem Bauch. Sie blickt ihn durch einen Tränenschleier hindurch an.
Als Faina ihre Füße wieder unter seiner Jacke hervorzieht, sind sie blau. Sie kann nicht gehen. Deda verspricht, ihr zu helfen. Er sammelt Schnee und formt daraus einen Schneeball, an dem sie lutschen kann.
Inzwischen hat sich vor dem Mehlberg eine lange unruhige Schlange gebildet. Fünftausend Menschen stehen da und warten ungeduldig. Ihnen gegenüber stehen fünfzig Aufseher, neben vier Zelten für den Arzt, die Gesundheitsoffiziere und die am schwersten Erkrankten, sowie eine kleine Führungsgruppe Uniformierter, deren Gesichter alle von großer Angst gezeichnet sind, die jeden Moment in Hass umschlagen kann.
Die Leute nehmen das Mehl, so gut sie können, in Empfang. Einige haben Mützen bei sich, andere tragen es auf ihren bloßen Handflächen. Es rinnt ihnen zwischen den Fingern hindurch.
Der Befehl, sich in einer Schlange anzustellen, ist nutzlos. Chaos entsteht. Die Aufseher schießen wieder. Immer mehr Menschen sterben. Es geht bereits das Gerücht um, dass irgendwo im Wald ein Leichenhaufen versteckt ist.
Deda sitzt neben Faina und blickt auf seine alte Mütze. Sie betrachten das Mehl. Faina schüttelt bloß den Kopf. Sie schauen einander an. Sie könnte in der Tat seine Mutter sein.
In ihren Blicken liegt ein Versprechen. Sie werden einander nicht im Stich lassen.
Einander nicht verlassen.
»Man kann es mit Wasser mischen«, sagt Faina schließlich.
»Es gibt aber kein Wasser«, entgegnet Deda.
»Wir befinden uns doch mitten in einem Fluss«, anwortet Faina und lächelt matt.
Ihr Lächeln ist einzigartig. Zum ersten Mal in seinem Leben begreift Deda, was eine Mutter ist. Er begreift es wirklich.
Rundherum gibt es Wasser. Sie sitzen immer noch ganz in der Nähe von dem Ort, wo die Kähne sie abgesetzt haben. Aber unten am Ufer herrscht dichtes Gedränge. Deda möchte nicht dorthin, er will nie wieder eingeklemmt werden wie auf dem Kahn. Vorsichtig trägt er seine Mütze in Richtung des Mehlberges zurück. Auf dieser Seite gibt es ebenfalls eine Uferlinie. Vielleicht sind dort mittlerweile weniger Menschen.
Die Aufseher stehen mit ihren Gewehren um den Mehlberg herum aufgereiht. Sie sind ihm unheimlich. Obdachlose mit Gewehren. Deda schüttelt sich und beschließt, einen Umweg durch den dichten Pappelhain zu machen.
Und landet in der Hölle.
Zuerst begreift er nicht, was er sieht. Zwischen einigen Stämmen liegt etwas. Es dauert eine Weile, bis sich seine Sinneseindrücke zusammenfügen und sich die herumliegenden Gliedmaßen zu Menschen formen.
Das ist der Leichenberg. Deda erinnert sich an das Gerücht, dass die Aufseher die Leichen irgendwo zusammengetragen haben sollen. Zumindest solange sie es noch schafften, die Toten einzusammeln. Inzwischen bleiben sie einfach dort liegen, wo sie umfallen.
Deda hält inne. Nicht nur, weil er starr vor Schreck ist. Er empfindet noch etwas anderes. Vielleicht ist es Ehrfurcht angesichts des versammelten verlorenen Lebens, das diese
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