Zorn: Thriller (German Edition)
schöpfen.
»Befehl«, brummte die Kapitänsstimme. »Mir erteilt kein Idiot einen Befehl.«
Deda gelingt es zum ersten Mal, dem Blick des Kapitäns zu begegnen. Er sieht sehr besorgt aus.
»Jetzt ist es nicht mehr weit«, erklärt der Kapitän, »aber ich bin mir nicht sicher, ob es dort, wo ihr hinsollt, so viel besser sein wird.«
Es ist nicht viel mehr als eine kleine Unebenheit, ein winzig kleiner grauer Fleck, der sich auf der makellosen schwarzen Oberfläche des Flusses abzeichnet, weit in der Ferne am äußersten Rand des Blickfelds. Anfänglich scheint er nicht zu wachsen. Er scheint ebenso innezuhalten wie die übrige Natur.
Dann löst sich die Illusion auf, und die Natur gerät wieder in Bewegung. Der graue Fleck wird größer und größer. Schließlich entpuppt er sich als Insel.
Sie sind angekommen.
Die Gefangenen werden von den Kähnen gelassen. Auf der Insel stinkt es nach Sumpf und Moder.
Deda ist noch so klein. Eigentlich kennt er sich nicht aus mit Sumpf und Moder. Aber sein Organismus reagiert instinktiv. Der modrige Geruch sucht sich einen Weg in sein Innerstes.
Hinzu kommt die Kälte. Er begreift zwar nicht, wie es mitten im Mai schneien kann, aber er riecht, dass Schnee in der Luft liegt.
Die Insel ist klein und unbewohnt. Sie besteht lediglich aus sumpfigem Gelände und vereinzelten Pappelhainen. Dedas alte Stiefel sinken in den feuchten Boden ein, der bei den kalten Temperaturen langsam zu gefrieren beginnt. Er steht einfach da, wartet ab und versucht sich unsichtbar zu machen. Allerdings bewegt er die Füße, ihm ist kalt. Er tritt auf der Stelle, an einem Ort, den Gott vergessen hat.
Um ihn herum herrscht Chaos. Die Gefangenen werden gezählt. Gefangene aus vier großen Lastkähnen, ein grummelndes Gedrängel, ein drängelndes Gegrummel. Die Hälfte kann kaum gehen und stolpert taumelnd auf dem sumpfigen Boden umher. Die Toten werden herausgetragen, woraufhin sich der Leichengestank mit dem Sumpfgeruch mischt.
Die Aufseher, in ebenso erbärmlichem Zustand wie die Gefangenen und nur durch ihre Gewehre zu erkennen, tragen Jutesäcke an Land. Plötzlich greifen die Gefangenen sie an. Die Säcke reißen. Aus ihnen rinnt etwas Weißes. Es ist Mehl, das herausstaubt und wie vergebliche SOS-Rauchsignale in die Luft steigt, bis die Feuchtigkeit wie Vorboten des Schneesturms, den Deda heraufziehen spürt, kleine weiße Klümpchen zu Boden fallen lässt. Die Aufseher schießen auf die angreifenden Gefangenen. Das Mehl vermischt sich mit Blut. Ein rötlich-weißes Klümpchen landet vor Deda auf dem feuchten Boden. Ein Blutfleck, denkt er. Er will ihn auflecken. Denn in seinem Körper wütet der Hunger. Aber er lässt es bleiben.
Der Uniformierte, der am Pier zugestiegen ist, pfeift die Jutesackträger zurück. Obwohl er sich bemüht, herrisch und streng auszusehen, steht ihm die Angst ins Gesicht geschrieben. Deda erkennt die Angst wieder. Er weiß, wie sie die Blicke der Menschen verändert. Er hat gelernt, wozu Angst die Menschen treiben kann.
Jetzt schreit der Uniformierte den Kapitän an. Dedas Kapitän. Dann legen die Kähne ab. Umrunden die Insel. Deda sieht die Kähne auf der anderen Seite des Flusses wieder anlegen. Sie laden etwas ab. Deda glaubt, beinahe die Miene des Kapitäns vor sich zu sehen, als man ihn zwingt, Mehl direkt auf den Boden zu entladen. Der Mehlberg zeichnet sich ab wie ein Berggipfel. Ein schneebedeckter Berggipfel. Das ist alles, ein riesiger Mehlberg. Deda sieht keinen anderen Proviant. Weder Brot noch Wasser und auch keinen getrockneten Fisch, obwohl man es ihnen versprochen hat. Da sind auch keine Gerätschaften, um darin zu kochen oder daraus zu essen und zu trinken.
Was macht man mit nichts als Mehl? Essen?
Während sich die Kähne flussabwärts entfernen, werden Wachen um den Mehlberg herum aufgestellt. Kurz vor dem Einsetzen der Dämmerung beginnt es zu schneien. Aber es ist kein leichter Schneefall, sondern ein Schneesturm. Über Nacht verwandelt sich der Mehlberg tatsächlich in einen schneebedeckten Berggipfel.
Die Gefangenen versuchen, Feuer zu entfachen, um sich zu wärmen, aber das feuchte Pappelholz brennt miserabel. Nur einige wenige Holzhaufen entflammen, und Deda weicht dem Gedränge um die Feuerstellen aus. Er will nicht schon wieder gestoßen und getreten werden. Stattdessen zieht er seine Kleidung fester um sich und dankt Großmutter und Gott – ja, Gott auch ein wenig, Gott, an den er nicht glaubt –, dass Großmutter ihn immer
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