Zorn: Thriller (German Edition)
hebt er Fainas linken Fuß an. Er ist blau. In dem Moment wird es ihm klar. Es wird ihm mit einer Macht bewusst, die stärker ist als alles, was er je erlebt hat. Sie ist unerbittlich.
Sie haben ihr die Füße abgehackt, weil sie sie nicht essen wollten. Sie hätten ja giftig sein können.
Und sonst ist nichts mehr da.
Nichts.
Die Tüllgardine beweist Barmherzigkeit. Ihr Tanz hält inne. Der halb durchsichtige Schleier legt sich wieder über die Szene. Die Windbö flaut ab. Das, was bei geöffnetem Schleier geschah, liegt nun wieder gnädig im Dunkeln, ist jedoch nicht vergessen. Aber das Herz schlägt noch heftig. Es wird sich nie daran gewöhnen. Es wird sich nie wieder beruhigen.
Bis es stehen bleibt.
Die Hand, die die Tüllgardine jetzt erneut zur Seite schiebt, hat aufgehört zu zittern. Dort draußen ist das Meer noch immer spiegelglatt. Der Wind hält sich von der Küste der Toskana fern.
Der Schmerz, den die Erinnerung wachruft, ist dabei, sich zu verwandeln. Er formt sich, fokussiert sich zu einem Plan. Während der Blick weiterhin auf den halb durchsichtigen Schleier gerichtet ist, geht der unkontrollierbare Schmerz in einen kontrollierbaren Genuss über.
Fünf Tage akkurate Planung.
Bis es so weit ist.
Bekenntnis und Wahrheit
Den Haag, 9. Mai
Entgegen allen Prognosen hatte es in Den Haag angefangen zu regnen. Der Frühling war zwar bereits fortgeschritten, doch es wollte einfach nicht wärmer werden. Der Abend hingegen wich unweigerlich der Nacht. Vor dem Kneipenfenster prügelte der Regen auf den Asphalt. In den nachtschwarzen Pfützen spiegelte sich zitternd das Licht der Straßenlaternen.
Die von Narben gezeichneten Kämpen Paul Hjelm und Arto Söderstedt saßen im Café Rootz an der Kreuzung Raamstraat – Grote Marktstraat. Das gesamte Abendessen über hatten sie vorwiegend geschwiegen, und inzwischen waren sie beim Calvados angelangt.
»Der Selbstmörder«, sagte Hjelm nach einer Weile.
Söderstedt schüttelte langsam den Kopf.
»Es ist Sonntagabend«, entgegnete er und nippte am Calvados. »Da bringst du mich jetzt nicht hin.«
»Ich weiß«, antwortete Hjelm.
Und dann schwiegen sie wieder eine Weile.
»Nein«, sagte Söderstedt schließlich. »Du bringst mich da nicht hin, egal wie ausdauernd du auch schweigst.«
»Ich weiß«, entgegnete Hjelm.
Wieder verstrich Zeit.
»Egal wie ausdauernd du auch als Chef schweigst«, fügte Söderstedt hinzu.
»Deine Familie ist also wieder zu Hause in Schweden?«, fragte Hjelm.
»Linda ist gerade aus Australien zurückgekommen«, antwortete Söderstedt. »Sie muss inzwischen die älteste Tagträumerin der Welt sein. Ich wäre gerne übers Wochenende mit ihnen nach Hause gefahren. Aber da war ja ...«
Paul Hjelm schwieg erneut.
Arto Söderstedt richtete seinen hellblauesten Blick auf ihn und fragte: »Du erinnerst dich an meine zweitälteste Tochter?«
»Linda«, sagte Hjelm. »Ich weiß. Geht es ihr gut?«
»Ja, obwohl sie immer noch ohne Plan und Ziel durch die Weltgeschichte reist«, antwortete Söderstedt. »Unverschämt gut.«
»Genau wie der Vater«, entgegnete Hjelm. Dann schwieg er wieder.
Söderstedt nippte erneut am Calvados und ließ das goldene Elixier sich sacht in seiner Mundhöhle ausbreiten und dachte an absolut gar nichts. Dadurch erzeugte er ein Vakuum, das normalerweise die geheimen Gedanken seiner Gesprächspartner wirkungsvoll ansog.
»Ich reise ziemlich selten durch die Weltgeschichte«, sagte Söderstedt verdrießlich. »Als ich diesen Job hier antrat, hatte ich eigentlich angenommen, etwas öfter unterwegs zu sein.«
»Und jetzt besteht die Möglichkeit dazu«, entgegnete Hjelm knapp.
Sie schwiegen erneut.
»Er hat sich nicht das Leben genommen«, meinte Söderstedt schließlich.
Hjelm lächelte nicht einmal triumphierend, als er sagte: »Aber alles deutet darauf hin. Betagter Professor. Eine fast ein halbes Jahrhundert währende Ehe, die in die Brüche ging. Unglücklich nach der Scheidung. Die Sache ist nur deshalb auf unserem Tisch gelandet, weil das Tätigkeitsfeld des Professors hochsensibel ist und sein Tod daher automatisch diverse nationale und internationale Alarmsysteme aktiviert.«
»Und das zu Recht«, behauptete Söderstedt. »Dort ist es zu sauber, und das weißt du auch, Paul. Kein Staubkorn. Da ist gezielt gereinigt worden. Es handelt sich um einen vorgetäuschten Selbstmord, falls es so etwas überhaupt gibt. Er hat sich nicht das Leben genommen. Es ist ein klassischer fingierter
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