Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
psychischen Feldes wollte die klassische Psychoanalyse zumeist nichts wissen – daran konnten Zusatzkonstrukte wie der »Todestrieb« oder eine mythische Figur namens »Destrudo« alias Primäraggression nur wenig ändern. Auch die später hinzugefügte Ich-Psychologie war nur kompensatorisch sinnvoll, und es war verständlich, wenn sie den klassischen Freudianern, Partisanen des Unbewußten, stets ein Dorn im Auge bleiben sollte.
Ihrem erotodynamischen Ansatz entsprechend brachte die Psychoanalyse viel von dem Haß ans Licht, der die dunkle Kehrseite der Liebe bildet. Es gelang ihr zu zeigen, daß das Hassen ähnlichen Gesetzen unterliegt wie das Lieben und daß hier wie dort Projektion und Wiederholungszwang das Kommando führen. Sie blieb weitgehend stumm angesichts des Zorns, der aus dem Streben nach Erfolg, Ansehen, Selbstachtung und dessen Rückschlägen entspringt. Das sichtbarste Symptom der freiwilligen Unwissenheit, die aus dem analytischen Paradigma folgte, ist die Narzißmustheorie, jenes zweite Aufgebot der psychoanalytischen Doktrin, mit dem die Unstimmigkeiten des ödipalen Theorems beseitigt werden sollten. Bezeichnenderweise wendet die Narzißmus-These ihr Interesse zwar den menschlichen Selbstaffirmationen zu, möchte diese jedoch gegen alle Plausibilitätin den Bannkreis eines zweiten erotischen Modells einschließen. Sie nimmt die vergebliche Mühe auf sich, die eigensinnige Fülle der thymotischen Phänomene von der Autoerotik und deren pathogenen Zersplitterungen abzuleiten. Zwar formuliert sie ein respektables Bildungsprogramm für die Psyche, das die Transformation der sogenannnten narzißtischen Zustände in reife Objektliebe zum Ziel hat. Es kam ihr nie in den Sinn, einen analogen Bildungsweg für die Hervorbringung des stolzen Erwachsenen, des Kämpfers und Ambitionsträgers, zu entwerfen. Das Wort »Stolz« ist für Psychoanalytiker meist nur ein inhaltsleerer Eintrag ins Lexikon des Neurotikers. Zu dem, was das Wort bezeichnet, haben sie aufgrund einer Verlernübung, die sich Ausbildung nennt, den Zugang praktisch verloren.
Narziß jedoch ist unfähig, Ödipus zu helfen. Die Wahl dieser mythischen Modellpersonen verrät mehr über den Wähler als über die Natur des Gegenstands. Wie sollte ein Jüngling mit grenzdebilen Zügen, der nicht zwischen sich und seinem Spiegelbild unterscheiden kann, die Schwächen eines Mannes kompensieren, der den eigenen Vater erst in dem Moment kennenlernt, in dem er ihn totschlägt, und dann aus Versehen mit der eigenen Mutter Nachkommen zeugt? Beide sind Liebende auf trüben Pfaden, beide verirren sich so sehr in erotischen Abhängigkeiten, daß nicht leicht zu entscheiden wäre, wer von ihnen als der Elendere gelten soll. Eine Galerie der Prototypen menschlicher Kläglichkeit ließe sich überzeugend mit Ödipus und Narziß beginnen. Man wird solche Figuren bedauern, nicht bewundern, und soll doch in ihren Schicksalen, wenn es nach den Lehren der Schule ginge, die mächtigsten Muster für die Lebensdramen aller anerkennen. Welche Tendenz diesen Beförderungen zugrunde liegt, ist unschwer zu durchschauen. Wer Menschen zu Patienten – das heißt zu Personen ohne Stolz – machen möchte, kann nichts Besseres tun, als Figuren wie diese zu Emblemen der conditio humana zu erhöhen. In Wahrheithätte ihre Lektion in der Warnung liegen müssen, wie leicht die unberatene und vereinseitigte Liebe ihre Subjekte zum Narren hält. Nur wenn das Ziel darin besteht, den Menschen ob ovo als Hampelmann der Liebe zu portraitieren, wird man den elenden Anbeter des eigenen Bildes und den ebenso elenden Liebhaber seiner Mutter zu Mustern menschlichen Daseins erklären. Man darf im übrigen konstatieren, daß die Geschäftsgrundlagen der Psychoanalyse inzwischen durch die übermäßige Verbreitung ihrer erfolgreichsten Fiktionen unterhöhlt worden sind. Von ferne weiß die kühlere Jugend unserer Tage noch, was es mit Narziß und Ödipus auf sich hatte – an ihren Schicksalen nimmt sie dennoch eher gelangweilt Anteil. Sie sieht in ihnen keine Urbilder des Menschseins mehr, sondern bedauernswerte, im Grunde ziemlich belanglose Versager.
Wer sich für den Menschen als Träger von stolzen und selbstaffirmativen Regungen interessiert, sollte sich entscheiden, den Knoten der überforderten Erotik zu durchschlagen. Man muß dann wohl zu der Grundansicht der philosophischen Psychologie bei den Griechen zurückkehren, nach welcher sich die Seele nicht allein im Eros und seinen
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