Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
dessen Körper
beschränkt, er setzt ein verzweigtes Geflecht von Aktionen in beiden Welten in Gang. Mit stürmischer Angriffslust übernimmt die menis die
Vermittlung zwischen den Unsterblichen und den Sterblichen; sie treibt Hephaistos, den Schmiedegott, an, bei der Herstellung der neuen Waffen sein Bestes
zu geben; sie verleiht Thetis, der Mutter des Helden, Flügel, um schnelle Botengänge zwischen der unterirdischen Schmiede und dem Lager der Griechen zu
verrichten. Im innersten Zirkel ihrer Wirksamkeit jedoch richtet die menis den Kämpfer erneut an seinemschicksalhaften letzten Gegner aus – sie schwört ihn auf die reale Gegenwart des Kampfes ein. Sie führt ihn auf dem Schlachtfeld an die von der Vorsehung bestimmte Stelle, wo sie ihr höchstes Auflodern, ihr äußerstes Maß an erfüllender Freisetzung finden wird. Vor den Mauern Trojas setzt ihre Vollendung das Zeichen. Dort tut sie das Nötige, um jeden Zeugen an die Konvergenz von Explosion und Wahrheit zu erinnern. 8 Nur der Umstand, daß zuletzt nicht der Zorn des Achilles, sondern die List des Odysseus die belagerte Stadt besiegt, läßt erkennen: Auch in der fatalen Ebene vor Troja mußte es schon einen zweiten Weg zum Erfolg geben. Sah Homer für den bloßen Zorn also keine Zukunft?
Eine solche Folgerung wäre übereilt, denn der Homer der Ilias unterläßt nichts, um die Würde des Zorns auszubreiten. Er stellt im kritischen Moment heraus, wie explosiv die Zornkraft des Achilles aufflammte. Von einem Augenblick zum nächsten stellt ihre Gegenwart sich ein. Gerade ihre Plötzlichkeit ist unentbehrlich, um ihren höheren Ursprung zu beglaubigen. Es gehört zur Tugend des frühgriechischen Helden, bereit zu sein, zum Gefäß für die jäh einströmende Energie zu werden. Noch befinden wir uns in einer Welt, deren spirituelle Verfassung offen mediumistisch geprägt ist: Wie der Prophet ein Mittler für das heilige Protestwort ist, so wird der Krieger zum Werkzeug für die Kraft, die sich in ihm schlagartig sammelt, um in die Erscheinungswelt durchzubrechen.
Eine Säkularisierung der Affekte ist in dieser Ordnung der Dinge noch unbekannt. Säkularisierung meint die Durchführung des Programms, das in normal
gebauten europäischenSätzen steckt. Durch sie wird im Realen nachgeahmt, was der Satzbau vorgibt: Subjekte wirken auf Objekte ein und erlegen ihnen ihre Herrschaft auf. Unnötig, zu sagen, daß Homers Handlungswelt von solchen Verhältnissen weit entfernt bleibt. Nicht die Menschen haben ihre Leidenschaften, die Leidenschaften haben vielmehr ihre Menschen. Der Akkusativ ist noch unregierbar. Bei dieser Lage der Dinge läßt der Eine Gott naturgemäß auf sich warten. Der theoretische Monotheismus kann erst an die Macht kommen, wenn die Philosophen das Satzsubjekt im Ernst als Weltprinzip postulieren. Dann freilich sollen auch die Subjekte ihre Leidenschaften haben und sie als ihre Herren und Besitzer kontrollieren. Bis dahin herrscht der spontane Pluralismus, in dem Subjekte und Objekte ständig die Plätze tauschen.
Daher also: Den Zorn muß man im reifen Moment besingen, wenn er seinem Träger widerfährt – nichts anderes hat Homer im Sinn, wenn er die lange Belagerung von Troja und den kaum noch erhofften Sturz der Stadt ganz auf die mysteriöse Kampfkraft des Protagonisten bezieht, wegen dessen Grollen die Sache der Griechen zur Erfolglosigkeit verurteilt war. Er nutzt die Gunst der Stunde, in der die menis in ihren Träger einströmt. Die epische Erinnerung braucht dann nur dem Gang der Ereignisse zu folgen, der durch die Konjunkturen der Kräfte diktiert wird. Entscheidend ist, daß der Krieger selbst, sobald der erhabene Zorn sich regt, eine Art numinoser Gegenwart erlebt. Darum allein kann der heroische Zorn bei seinem begabtesten Werkzeug mehr bedeuten als einen profanen Koller. Im höheren Ton gesprochen: Durch die Aufwallung redet der Gott des Schlachtfelds zum Kämpfer. Man versteht sofort, warum in solchen Augenblicken von zweiten Stimmen wenig zu hören ist. Kräfte dieser Art sind, an ihren naiven Anfängen zumindest, monothematisch, da sie den ganzen Mann in Anspruch nehmen. Sie fordern die ungeteilte Bühne für den Ausdruck deseinen Affekts. 9 Beim reinen Zorn gibt es kein verknotetes Innenleben, keine psychische Hinterwelt und kein privates Geheimnis, durch das der Held menschlich verständlicher würde. Vielmehr gilt der Grundsatz, das Innere des Akteurs solle ganz manifest und öffentlich, ganz Tat und wenn
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