Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Abhängigkeit nicht verzichten. Noch schwieriger dürfte es für viele sein, sich von der verhüllten Bigotterie der Psychoanalyse zu emanzipieren, nach deren Dogmatik auch der kraftvollste Mensch nicht mehr sein kann als der bewußte Dulder seiner liebeskranken Kondition, die Neurose heißt. Die Zukunft der Illusionen ist durch die große Koalition gesichert: Das Christentum wie die Psychoanalyse können ihren Anspruch, die letzten Horizonte des Wissens vom Menschen zu umschreiben, mit Aussicht auf Erfolg verteidigen, solange sie sich darauf verstehen, ein Monopol für die Definition der menschlichen Kondition durch den konstitutiven Mangel, vormals besser bekannt als Sünde, aufrechtzuerhalten. Wo der Mangel an der Macht ist, führt die »Ethik der Würdelosigkeit« das Wort.
Solange also die beiden klugen Bigotteriesysteme dieSzene beherrschen, ist die Sicht auf die thymotische Dynamik menschlicher Existenz verstellt, in bezug auf Individuen nicht weniger als in bezug auf politische Gruppen. Folglich ist der Zugang zum Studium der Selbstbehauptungs- und Zorndynamik in psychischen und sozialen Systemen praktisch blockiert. Stets muß man dann mit den ungeeigneten Konzepten der Erotik auf die thymotischen Phänomene zugreifen. Unter der bigotten Blockade kommt die direkte Intention nie wirklich zur Sache, da man sich nur noch mit schrägen Zügen den Tatsachen nähern kann – immerhin sind diese, ihrer erotischen Fehlauffassung zum Trotz, nie ganz zu verdunkeln. Ist diese Verlegenheit beim Namen genannt, wird klar, daß ihr allein durch die Umstellung des grundbegrifflichen Apparats abzuhelfen ist.
Theorie der Stolz-Ensembles
An dem gründlich eingeübten Fehlansatz der psychologischen Anthropologie des Westens hatte bisher vor allem die politische Wissenschaft, besser ausgedrückt: die Kunst der psychopolitischen Steuerung von Gemeinwesen, zu leiden. Ihr fehlte ein ganzer Set an Axiomen und Begriffen, die der Natur ihres Gegenstands angemessen wären. Was aus der Sicht der Thymotik umweglos als primäre Gegebenheit anzusetzen ist, läßt sich nämlich auf dem Umweg über die verfügbaren erotodynamischen Begriffe entweder gar nicht oder nur gewunden darstellen. Wir nennen an dieser Stelle die sechs wichtigsten Grundsätze, die als Ausgangspunkte für eine Theorie thymotischer Einheiten dienen können:
– Politische Gruppen sind Ensembles, die endogen unter thymotischer Spannung stehen. – Politische Aktionen werden durch
Spannungsgefälle zwischen Ambitionszentren in Gang gebracht.
– Politische Felder werden durch den spontanen Pluralismus selbstaffirmativer Kräfte geformt, deren Verhältnisse zueinander sich kraft
interthymotischer Reibungen verändern.
– Politische Meinungen werden konditioniert und redigiert durch symbolische Operationen, die einen durchgehenden Bezug zu den thymotischen
Regungen der Kollektive aufweisen.
– Rhetorik – als Kunstlehre der Affektlenkung in politischen Ensembles – ist angewandte Thymotik.
– Machtkämpfe im Innern politischer Körper sind immer auch Vorrangkämpfe zwischen thymotisch geladenen, umgangssprachlich: ehrgeizigen Individuen mitsamt ihren Gefolgschaften; die Kunst des Politischen schließt darum die Verfahren der Verliererabfindung ein.
Geht man von dem natürlichen Pluralismus thymotischer Kraftzentren aus, muß man ihre Beziehungen gemäß deren spezifischen Feldgesetzlichkeiten untersuchen. Wo reale Kraft-Kraft-Beziehungen gegeben sind, hilft der Rekurs auf die Selbstliebe der Akteure nicht weiter – oder doch nur in untergeordneten Aspekten. Statt dessen ist zunächst zu statuieren, daß politische Einheiten (konventionell als Völker und deren Untergruppen aufgefaßt) in systemischer Sicht metabolische Größen sind. Sie haben allein als produzierende und konsumierende, stressverarbeitende, mit Gegnern und anderen entropischen Faktoren kämpfende Entitäten Bestand. Bemerkenswerterweise haben christlich und psychoanalytisch geprägte Denker bis heute Mühe zuzugeben, daß Freiheit ein Begriff ist, der nur im Rahmen einer thymotischen Menschensicht Sinn ergibt. Ihnen sekundieren mit hohem Eifer die Ökonomen, die den Menschen als das konsumierende Tier ins Zentrum ihrer Appelle stellen – sie wollen dessen Freiheit nur bei der Wahl der Futternäpfe am Werk sehen.
Durch Stoffwechseltätigkeiten werden in einem vitalen System erhöhte Innenleistungen stabilisiert, auf der physischen wie der psychischen Ebene. Das Phänomen
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