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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Intentionen auf das eine und viele äußert, vielmehr ebensosehr in den Regungen des Thymos. Während die Erotik Wege zu den »Objekten« zeigt, die uns fehlen und durch deren Besitz oder Nähe wir uns ergänzt fühlen, erschließt die Thymotik den Menschen die Bahnen, auf denen sie geltend machen, was sie haben, können, sind und sein wollen. Der Mensch ist der Überzeugung der ersten Psychologen zufolge durchaus zum Lieben geschaffen, und dies gleich zweifach: gemäß dem hohen und vereinigenden Eros, sofern die Seele von der Erinnerung an eine verlorene Vollkommenheit gezeichnet ist; und gemäß dem populären und zerstreuenden Eros, sofern sie ständig einer bunten Vielzahl von »Begierden« (besser von Appetit-Attraktion-Komplexen) unterliegt. Keinesfalls darf er sich ausschließlich den begehrenden Affekten ausliefern.Mit ebenso großem Nachdruck soll er über die Forderungen seines thymós wachen, wenn nötig sogar auf Kosten der erotischen Neigungen. Er ist herausgefordert, seine Würde zu wahren und sich Selbstachtung wie Achtung durch andere im Licht hoher Kriterien zu verdienen. Dies ist so und kann nicht anders sein, weil das Leben von jedem einzelnen verlangt, auf den äußeren Bühnen des Daseins hervorzutreten und seine Kräfte unter seinesgleichen zur Geltung zu bringen, zum eigenen wie zum gemeinsamen Vorteil.
    Wer die zweite Bestimmung des Menschen zugunsten der ersten aufheben möchte, weicht der Notwendigkeit einer doppelten psychischen Bildung aus und verkehrt das Verhältnis der Energien im inneren Haushalt – zum Schaden des Hauswirts. Solche Umkehrungen beobachtete man in der Vergangenheit vor allem in den religiösen Orden und den demutstrunkenen Subkulturen, in denen schöne Seelen sich gegenseitig Friedensgrüße schicken. In diesen ätherischen Kreisen wurde das gesamte thymotische Feld durch den Vorwurf der superbia abgeriegelt, indessen man vorzog, in den Wonnen der Bescheidenheit zu schwelgen. Ehre, Ambition, Stolz, hohes Selbstgefühl – dies alles wurde hinter einer dichten Wand von moralischen Vorschriften und psychologischen »Erkenntnissen« verborgen, die allesamt darauf ausgingen, den sogenannten Egoismus in Acht und Bann zu tun. Das in den imperialen Kulturen und ihren Religionen schon früh statuierte Ressentiment gegen das Ich und seine Neigung, sich und das Seine zur Geltung zu bringen, statt in der Unterordnung glücklich zu werden, lenkte über nicht weniger als zwei Jahrtausende hin von der Einsicht ab, daß der vielgescholtene Egoismus in Wahrheit oft nur das Incognito der besten menschlichen Möglichkeiten darstellt. Erst Nietzsche hat in dieser Frage wieder für klare Verhältnisse gesorgt.
    Bemerkenswerterweise erreicht der aktuelle Konsumismus dieselbe Ausschaltung des Stolzes zugunsten der Erotikohne altruistische, holistische und sonstige vornehme Ausreden, indem er den Menschen ihr Interesse an Würde durch materielle Vergünstigungen abkauft. So kommt das anfangs völlig unglaubwürdige Konstrukt des homo oeconomicus beim postmodernen Verbraucher doch ans Ziel. Bloßer Konsument ist, wer keine anderen Begierden mehr kennt oder kennen soll als jene, die, um mit Platon zu sprechen, aus dem erotischen oder verlangenden »Teil der Seele« hervorgehen. Nicht umsonst ist die Instrumentalisierung der Nudität das Leitsymptom der Konsumkultur, sofern Nacktheit immer mit einem Anschlag aufs Begehren einhergeht. Immerhin sind die zum Verlangen aufgerufenen Klienten zumeist nicht ganz ohne Abwehrkräfte. Sie fangen den Dauerangriff auf die Würde ihrer Intelligenz entweder mit Dauerironie oder mit erlernter Gleichgültigkeit auf.
    Die Kosten der einseitigen Erotisierung sind hoch. Tatsächlich macht die Abdunkelung des Thymotischen das menschliche Verhalten in sehr weiten Bereichen unverständlich – ein überraschendes Ergebnis, zieht man in Betracht, daß es nur durch psychologische Aufklärung zu erzielen war. Hat man sich dieser Verkennung verschrieben, begreift man die Menschen in Spannungs- und Kampfsituationen nicht mehr. Wie üblich vermutet dieses Nichtverstehen den Fehler überall, nur nicht bei der eigenen Optik. Kaum treten bei Individuen oder Gruppen »Symptome« wie Stolz, Empörung, Zorn, Ambition, hoher Selbstbehauptungswille und akute Kampfbereitschaft auf, nimmt der Parteigänger der thymós -vergessenen therapeutischen Kultur Zuflucht zu der Vorstellung, diese Leute müßten Opfer eines neurotischen Komplexes sein. Die Therapeuten stehen hiermit in der

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