Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
möglich Gesang werden. Dem aufwallenden Zorn ist es eigentümlich, in seinem verschwenderischen Ausdruck restlos aufzugehen; wo die totale Expressivität den Ton angibt, ist von Zurückhaltung und Aufsparung keine Rede. Natürlich wird auch immer »um etwas« gekämpft, vor allem aber dient der Kampf der Offenbarung der kämpfenden Energie an sich – die Strategie, das Kriegsziel, die Beute kommen später.
Wo der Zorn aufflammt, ist der vollständige Krieger gegeben. Durch den Aufbruch des entflammten Helden in den Kampf verwirklicht sich eine Identität des Menschen mit seinen treibenden Kräften, von der die häuslichen Menschen in ihren besten Momenten träumen. Auch sie, sosehr sie ans Vertagen und Wartenmüssen gewohnt sind, haben die Erinnerung an die Momente des Lebens nicht ganz vergessen, in denen der Elan des Handelns aus den Umständen selbst zu fließen schien. Wir könnten dieses Einswerden mit dem puren Antrieb, eine Wendung Robert Musils aufnehmend, die Utopie des motivierten Lebens nennen. 10
Für die seßhaften Leute freilich, die Bauern, die Handwerker, die Tagelöhner, die Schreiber, die frühen Beamten,wie für die späteren Therapeuten und Professoren geben die zögernden Tugenden die Richtung vor – wer auf der Tugendbank sitzt, kann gewöhnlich nicht wissen, wie seine nächste Aufgabe lautet. Er muß den Rat verschiedener Seiten hören und seine Entscheidungen aus einem Gemurmel herauslesen, in dem kein Tenor die Hauptstimme verkörpert. Für die Alltagsmenschen ist Evidenz im Augenblick unerreichbar; ihnen helfen bestenfalls die Krücken der Gewohnheit weiter. Was die Gewohnheit bietet, sind bodennahe Surrogate von Gewißheit. Die mögen stabil sein, doch die lebendige Gegenwart der Überzeugung gewähren sie nicht. Wer hingegen den Zorn hat, für den ist die blasse Zeit vorüber. Der Nebel steigt, die Konturen härten sich, nun führen klare Linien zum Objekt. Der glühende Angriff weiß, wohin er will. Der in Hochform Zürnende »fährt in die Welt wie die Kugel in die Schlacht«. 11
Jenseits der Erotik
In unseren Tagen konkretisiert sich der Verdacht, die Psychoanalyse – die dem 20. Jahrhundert weithin als psychologisches Leitwissen diente – müsse die Natur ihres Gegenstands in einer wesentlichen Hinsicht verkannt haben. Aus sporadischen Einwänden gegen das psychoanalytische Lehrgebäude, die bis in die Frühzeit der Doktrin zurückreichen, ist heute eine theoretisch gesicherte Verweigerung der Gefolgschaft geworden. Deren Ausgangspunkt sind weniger die endlosen Querelen über die mangelnde »wissenschaftliche« Beweisbarkeit psychoanalytischer Thesen und Resultate (wie sie jüngst anläßlich des problematischen Livre noir de la psychanalyse wieder einmal für Aufsehen sorgten) als vielmehr die immer größer werdende Kluft zwischen den psychischen Phänomenen und den schulischen Begriffen – eine Malaise, die von den kreativen Autoren und Praktikern der psychoanalytischen Bewegung seit längerem offen diskutiert wird. Auch die chronischen Zweifel an ihrer spezifischen Wirksamkeit machen nicht den Kern des Widerspruchs aus.
Die Quelle des prinzipiellen Mißverständnisses, dem sich die Psychoanalyse verschrieben hatte, lag in ihrem naturalistisch verkleideten kryptophilosophischen Vorsatz, die conditio humana insgesamt von der Libidodynamik her, mithin von der Erotik, zu erklären. Dies hätte kein Verhängnis bedeuten müssen, wäre das legitime Interesse der Analytiker für den energiereichen Eros-Pol der Psyche mit einer ebenso lebhaften Zuwendung zum Pol der thymotischen Energien verbunden gewesen. Nie war sie jedoch dazu bereit, mit gleicher Ausführlichkeit und Grundsätzlichkeit von der Thymotik des Menschen beiderlei Geschlechts zu handeln: von seinem Stolz, seinem Mut, seiner Beherztheit, seinem Geltungsdrang, seinem Verlangen nach Gerechtigkeit,seinem Gefühl für Würde und Ehre, seiner Indignation und seinen kämpferisch-rächerischen Energien. Etwas herablassend überließ man Phänomene dieser Art den Anhängern Alfred Adlers und anderen vorgeblich schmalbrüstigen Interpreten der sogenannten Minderwertigkeitskomplexe. Allenfalls räumte man ein, daß Stolz und Ehrgeiz die Oberhand gewinnen können, wo sexuelle Wünsche sich nicht adäquat verwirklichen lassen. Dieses Umschalten der Psyche zu einem zweiten Programm nannte man mit dürrer Ironie Sublimation – Herstellung von Erhabenem für jene, die es nötig haben.
Von einer zweiten Grundkraft des
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