Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Tradition der christlichen Moralisten, die von der natürlichen Dämonie der Selbstliebe sprechen, sobald die thymotischen Energien sich offen zu erkennen geben. Haben die Europäer über den Stolz wie den Zorn nicht von den Tagen der Kirchenväter an zu hören bekommen, solche Regungen seienes, die den Verworfenen den Weg in den Abgrund wiesen? Tatsächlich führt seit Gregor I . der Stolz, alias superbia , die Liste der Kardinalsünden an. Fast zweihundert Jahre früher hatte Aurelius Augustinus ihn als die Matrix der Auflehnung gegen das Göttliche beschrieben. Für den Kirchenvater bedeutet die superbia eine Tathandlung des bewußten Nicht-so-wollens-wie-der-Herr-will (eine Regung, deren gehäuftes Vorkommen bei Mönchen und Staatsdienern begreiflich scheint). Wenn es vom Stolz heißt, er sei die Mutter aller Laster, drückt das die Überzeugung aus, der Mensch sei zum Gehorchen geschaffen – und jede Regung, die aus der Hierarchie herausführt, kann nur den Schritt ins Verderben bedeuten. 17
Man hat in Europa bis zur Renaissance und zur Schaffung einer neuen Formation des städtischen und bürgerlichen Stolzes warten müssen, bevor die dominierende humilitas- Psychologie, die Bauern, Klerikern und Vasallen auf den Leib geschrieben war, durch ein neo-thymotisches Menschenbild zumindest partiell zurückgedrängt werden konnte. Unverkennbar kommt dem Aufstieg des Nationalstaats bei der Neugewichtung der Leistungsaffekte eine Schlüsselrolle zu. Es ist kein Zufall, daß dessen Vordenker, allen voran Machiavelli, Hobbes, Rousseau, Smith, Hamilton und Hegel, ihren Blick wieder auf den Menschen als Träger wertender Leidenschaften gerichtet haben, besonders Ruhmbegierde, Eitelkeit, amour-propre , Ehrgeiz und Verlangen nach Anerkennung. Keiner dieser Autoren hat die Gefahren verkannt, die solchen Affekten innewohnen; dennoch haben die meisten den Versuch gewagt, deren produktive Aspektefür das Zusammensein der Menschen hervorzukehren. Seit auch das Bürgertum sein Interesse an Eigenwert und Würde artikuliert, und mehr noch seit die unternehmerischen Menschen des bürgerlichen Zeitalters einen neo-aristokratischen Begriff von selbstverdientem Erfolg entwickeln, 18 werden die traditionellen Demutsdressuren kompensiert durch eine offensive Nachfrage nach Gelegenheiten, die eigenen Kräfte, Künste und Vorzüge vor einem Publikum zur Schau zu stellen.
Unter dem Deckbegriff des Erhabenen erhält die Thymotik in der modernen Welt ihre zweite Chance. Kein Wunder, daß der gute Mensch der Gegenwart auch vor dem Erhabenen instinktsicher zurückweicht, als witterte er in ihm die alte Gefahr. Bedrohlicher noch bringt das moderne Lob der Leistung die thymotische Seite der Existenz zu neuer Aufstellung, und nicht ohne Sinn für die strategische Lage widersetzen sich die Partisanen des weinerlich-kommunikativen Eros laut klagend diesem vorgeblich menschenfeindlichen Prinzip. 19
Die Aufgabe lautet also, eine Psychologie des Eigenwertbewußtseins und der Selbstbehauptungskräfte wiederzugewinnen, die den psychodynamischen
Grundgegebenheiten eher gerecht wird. Das setzt die Korrektur des erotologisch halbierten Menschenbildes voraus, das die Horizonte des 19. und
20. Jahrhunderts umstellt. Zugleich wird eine empfindliche Distanzierung von tief eingeschliffenen Konditionierungen der westlichen Psyche notwendig, in
ihren älterenreligiösen Ausprägungen ebenso wie ihren jüngeren Metamorphosen.
Zunächst und vor allem ist Abstand zu gewinnen von der unverhüllten Bigotterie der christlichen Anthropologie, nach welcher der Mensch in seiner Eigenschaft als Sünder das hochmutkranke Tier abgibt, dem nur durch Glaubensdemut geholfen werden kann. Man soll sich nicht einbilden, eine hiervon Distanz schaffende Bewegung wäre leicht auszuführen oder gar schon vollzogen. Wenngleich die Phrase »Gott ist tot« jetzt schon von Journalisten geläufig in den Computer eingegeben wird, bestehen die theistischen Demutsdressuren im demokratischen Konsensualismus nahezu ungebrochen fort. Es ist, wie man sieht, ohne weiteres möglich, Gott sterben zu lassen und doch ein Volk von Quasi-Gottesfürchtigen zu behalten. Mögen die meisten Zeitgenossen von anti-autoritären Strömungen erfaßt sein und gelernt haben, eigene Geltungsbedürfnisse auszudrücken, so halten sie doch in psychologischer Sicht an einem Verhältnis semirebellischer Vasallität gegenüber dem versorgenden Herrn fest. Sie verlangen »Respekt« und wollen auf die Vorteile der
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