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Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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wenn es richtig dunkel ist«, flüsterte der Kleine.
    Sein Bruder schluckte.
    »Ich habe mich geirrt.«
    Sie rannten, so schnell sie konnten.

Sechs
    Frieda Borck erwachte vom Klingeln an der Wohnungstür. Schlaftrunken schlurfte sie über den Flur, im Vorbeigehen warf sie einen Blick auf die Uhr über der kleinen Kommode. Halb sieben. Zu früh, um nachzudenken, wer das jetzt sein konnte. Sie brauchte zwei Versuche, um die Tür zu öffnen, beim ersten Anlauf verfehlte ihre Hand die Klinke.
    »Guten Morgen«, sagte Jan Czernyk.
    Er hielt ihr einen Blumenstrauß entgegen, ein Dutzend gelb-rot gesprenkelte Tulpen.
    »Du?«
    Sie hatten sich vor ein paar Monaten kennengelernt, seitdem trafen sie sich in unregelmäßigen Abständen. In dieser Zeit hatten sie wenig gesprochen und viel miteinander geschlafen, sie wussten wenig voneinander, sonst hätte Czernyk geahnt, dass die Staatsanwältin Tulpen verabscheute.
    »Was machst du hier?«
    Frieda Borck hatte mit niemandem über ihre Beziehung gesprochen, und sie glaubte, dass er es ebenso hielt. Czernyk, der Sonderermittler mit den vietnamesischen Wurzeln, war ein schweigsamer Mann.
    »Hab ich dich geweckt?«
    Er stand im Hausflur, ein kleines, selbstverständliches Lächeln auf den Lippen, als hätten sie sich am Abend zuvor verabredet. In Wahrheit hatte sie seit zwei Wochen nichts von ihm gehört. Er arbeitete in der Landeshauptstadt, über achtzig Kilometer entfernt.
    Sie gähnte.
    »Du hast mir noch nie Blumen geschenkt.«
    »Dann wird es langsam Zeit, oder?«
    »Ziehst du jetzt bei mir ein?«, fragte sie und deutete auf den Reisekoffer auf dem Boden.
    »Vorerst würde es mir reichen, wenn ich kurz reinkommen dürfte.«
    Schweigend trat sie zur Seite. Czernyk gab ihr einen Kuss, ging in den Flur und hängte seinen Mantel auf.
    Es war sein Blick gewesen, der sie damals glauben ließ, er könne vielleicht der Richtige sein. Die ruhigen rabenschwarzen Augen hinter der schmalen Edelstahlbrille. Die olivenfarbene, glatte Haut, die hohen Wangenknochen. Die leise, selbstverständliche Art, mit der er sprach. Ein stiller, zurückhaltender Mann, der nicht aussprechen musste, was er wollte. Man wusste es auch so.
    »Du siehst müde aus, Jan.«
    Sie lehnte an der Eingangstür, die Blumen baumelten in ihrer linken Hand. Czernyk knöpfte sein Jackett auf und zog den Schlips gerade.
    »Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich wenig geschlafen habe. Aber du siehst toll aus.«
    »Niemand sieht um diese Zeit toll aus.«
    Sie trug ein uraltes Take-That-T-Shirt, ihr Haar stand in alle Richtungen vom Kopf ab. Kurz überlegte sie, wann sie zum letzten Mal ihre Beine rasiert hatte.
    Er nahm sie in den Arm, sie roch sein Parfum.
    »Kann ich kurz unter deine Dusche, Frieda?«
    »Später.«
    Sie schob ihn ein Stück von sich, sah ihm in die Augen.
    »Du siehst wirklich müde aus, Jan.«
    Er nahm die Brille ab, rieb sich das Gesicht, zwinkerte.
    »Das bin ich auch.«
    »Was ist mit deinen Augen?«
    »Nichts weiter, ein bisschen entzündet.« Er winkte ab. Die goldene Uhr an seinem Handgelenk blitzte auf. »Wahrscheinlich, weil ich mit offenem Fenster gefahren bin. Ich wollte so schnell wie möglich bei dir sein.«
    »Wie lange wirst du bleiben?«
    »Ich habe Urlaub. Ich habe Zeit, und ich will bei dir sein.«
    Jetzt hätte sie fragen können, warum er sich nicht gemeldet hatte, schließlich hätte er sie anrufen können, sagen, dass er sie besuchen würde. Sie tat es nicht, sondern schob ihn ein Stück weiter von sich. Ihre flache Hand lag auf seiner Brust, sie spürte seinen Herzschlag unter dem Hemd. Ruhig. Gleichmäßig.
    »Bist du sicher?«
    »Wäre ich sonst hier?«
    »Bist du sicher?«, wiederholte sie.
    Czernyk setzte die Brille wieder auf.
    »Nein. Lass uns einfach abwarten, was passiert, Frieda.«
    Sie dachte einen Moment nach. Dann nickte sie.
    »Ich muss in anderthalb Stunden bei der Arbeit sein.«
    »Heißt das, dass ich bleiben darf?
    »Das habe ich nicht gesagt.«
    »Ich hätte anrufen sollen.«
    »Ja, das hättest du. Und jetzt komm ins Bett.«
    *
    Im Gegensatz zu Hauptkommissar Zorn erschien der dicke Schröder im Normalfall spätestens um sieben Uhr morgens im Präsidium. Er arbeitete gern, wenn andere noch schliefen. Um diese Zeit verbreitete das wuchtige Gebäude die Aura eines verlassenen Fußballstadions, doch Schröder mochte diese Ruhe, die wenig später, wenn die Schritte hunderter Beamter über die Flure hallten, einer emsigen Betriebsamkeit weichen würde.
    Aus der

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