Zorn - Wo kein Licht
kleinen Stereoanlage plätscherte leise ein Klavierkonzert. Nachher würde er die Musik abstellen müssen, Zorn behauptete, er könne sich bei dieser verdammten Klimperei nicht konzentrieren.
Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Akten, daneben stand eine weiße Porzellantasse mit Kamillentee. Schröder sah müde aus, abgekämpft, er hatte den Kopf in die Hand gestützt und studierte eine Zeugenaussage. Noch immer trug er den dünnen Kopfverband, die dunklen Ringe unter seinen Augen waren unverkennbar. Immer wieder sah er auf, zwinkerte kurzsichtig, als habe er Mühe, sich zu konzentrieren.
Eine junge Frau sagte aus, vor zwei Tagen gegen fünf Uhr morgens einen älteren, offensichtlich verwirrten Mann gesehen zu haben, der in ungewöhnlichem Aufzug die Straße unterhalb der Burg in Richtung Brücke lief.
Schröder nahm einen Bleistift.
Glaubwürdig? schrieb er auf ein liniertes DIN-A4-Blatt. Zu Aussage einbestellen, Foto Grünbeins zeigen, Zeugin muss genaue …
Er zögerte, kaute an seinem Bleistift, als wisse er nicht weiter. Dann fiel es ihm ein.
… Personenbeschreibung abgeben!
Schröder hatte eine gestochen scharfe Handschrift mit engen, winzigen Buchstaben. Heute allerdings waren seine Aufzeichnungen krakelig, die Zeilen verrutschten wie bei einem Zweitklässler.
Er trank einen Schluck Tee und nahm die nächste Akte vom Stapel, den vorläufigen Bericht der Gerichtsmedizin über Meinolf Grünbein. Jetzt las er schneller, dabei folgte die Spitze des Bleistifts den Zeilen. Seite um Seite blätterte er um, ab und zu machte er sich Notizen. Zum Schluss würde er das Blatt noch einmal kurz überfliegen und danach wegwerfen, dann nämlich, wenn er alles, was wichtig war, im Kopf hatte.
Die Spitze des Bleistifts verharrte.
Es wurden keinerlei Drogen oder Medikamente festgestellt, las Schröder halblaut. Der anlässlich der Obduktion asservierte Mageninhalt bestand hauptsächlich aus Hefeteig, Tomatensauce, Salami und Käse (Pizza). Der Verdauungszustand zeigt an, dass die letzte Nahrungsaufnahme ca. sechs Stunden vor dem Tod erfolgte.
Schröder dachte an die leere Pizzapackung unter dem Bett des Toten. Grünbein hatte die Nacht zu Hause verbracht.
Weder Arme noch Hände weisen Abwehrverletzungen auf, unter den Fingernägeln fanden sich keinerlei Hautpartikel o.Ä. Sowohl an Eintrittswunde (Schläfe) und Schusshand wurden Schmauchspuren festgestellt, so dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit …
Schröder malte ein dickes Fragezeichen auf seinen Zettel.
… von Selbstmord ausgegangen werden kann. Dies muss in einer abschließenden Untersuchung noch geklärt werden.
Er griff zum Telefon, um die Durchwahl der Gerichtsmedizin einzutippen. Sein Zeigefinger schwebte über der Tastatur, er hatte die Nummer wohl schon hundertmal eingegeben. Doch jetzt wollte sie ihm partout nicht einfallen.
Seufzend betrachtete er den Hörer, blinzelte verwirrt und legte wieder auf. Dann klappte er die Akte zu und begann mit den Fingerspitzen seine Schläfen zu massieren. So saß er ein paar Minuten da, fast hätte man meinen können, er meditiere, doch dann sprang er mit einem Ruck auf.
Sein Gesicht war bläulich weiß angelaufen. Er schwitzte, das Haar klebte ihm auf der Glatze, der Stirnverband war ihm über die Augen gerutscht. Schröder schien Mühe zu haben, das Gleichgewicht zu halten, schwankend stand er da, hielt sich mit einer Hand am Schreibtisch fest, die andere fuchtelte haltsuchend durch die Luft. Die Porzellantasse kippte um, der Kamillentee ergoss sich über den Tisch, Akten, Notizzettel schwammen in der lauwarmen Brühe. Er bemerkte es nicht, wankte zum Waschbecken neben der Tür. Immer wieder stützte er sich mit der Hand an der Wand ab, er sah fast albern aus, wie ein angetrunkener Blinder.
Er öffnete den Wasserhahn, ließ das kalte Wasser über die Handgelenke laufen. Betrachtete sein Spiegelbild über dem Becken, ein verschwommenes, geisterhaftes Schemen.
»Irgendetwas stimmt nicht mit mir«, sagte er laut.
Sein Spiegelbild schien zu nicken.
»Was ist mit mir los?«
Schröder schüttelte den Kopf wie ein Hund, der eine Fliege abwehrt.
Er würgte. Sein Mageninhalt ergoss sich ins Waschbecken.
Dann sackte er in sich zusammen.
*
Zorn schlenderte durch eine Nebenstraße im Bahnhofsviertel. Die Stadt erstickte im Verkehrschaos, wegen der Massenkarambolage war die Hochstraße komplett gesperrt worden. Einerseits, weil die Arbeit der Spurensicherung noch nicht abgeschlossen war, zum
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