Zorn - Wo kein Licht
mir Hausarrest, wenn der weg ist.«
Manchmal, wenn niemand in der Nähe war, schlug er seinen Bruder, zog ihn an den Haaren oder kniff ihn. Aber immer so, dass keine Spuren blieben, dass er es abstreiten und mit großen, unschuldigen Augen behaupten konnte, er habe nichts getan. Er hatte ein zartes, mädchenhaftes Gesicht. Seine Eltern glaubten ihm. Immer.
Der Kleine war den Tränen nahe.
»Du hast gesagt, ich soll eine Bombe machen! Und ich hab eine gemacht! Meine war viel höher wie deine!«
» Als deine! Und jetzt ist der Ball drüben!«
Der Große warf einen Blick über den Zaun. Es war fast dunkel, eigentlich hätten sie längst zu Hause sein müssen. Sicher, er hätte problemlos durch eine der Lücken schlüpfen und den Ball suchen können, doch er hatte ebenfalls Angst. Und er kannte die Geschichten. Nein, er würde draußen warten. Er war der Stärkere, er bestimmte, wo es langging.
»Klettere durch und hol ihn!«
»Da kriegen mich keine zehn Gäule rein!«, schniefte der Kleine.
»Pferde, du Blödmann!«
»Das ist doch das Gleiche!«
»Dasselbe!«, rief der Große. In fünfzehn Jahren würde er einer der erfolgreichsten Immobilienmakler der Stadt sein. Vorerst musste er sich damit begnügen, seinen kleinen Bruder zu quälen. »Wenn du jetzt nicht gehst, dann bring ich dich heute Nacht hierher und binde dich da drinnen fest. Da sind Monster, die sind gepökelt.«
Der Kleine hatte keine Ahnung, was gepökelt bedeutete, aber es klang fürchterlich. Seine Augen wurden groß.
»Was?«
»Das Salz hat ihnen die Augen weggefressen, die können nichts sehen. Und sie kommen erst raus, wenn es richtig dunkel ist. Die riechen dich, und dann reißen sie dir mit ihren Krallen den Bauch auf und holen alles raus, was drin ist.«
Der Kleine runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Die Tränen hatten schmale Furchen auf seinem schmutzigen Gesicht hinterlassen. Wieder schüttelte er den Kopf.
»Nein«, sagte er ernst. »Dann müsstest du ja auch da rein. Und das traust du dich nicht.«
Sein Bruder griff ihn am Handgelenk, drehte ihm den Arm auf dem Rücken nach oben.
»Willst du’s drauf ankommen lassen, Blödmann?«
Der Kleine krümmte sich. Spürte den Schmerz durch seinen Körper schießen, den Atem seines Bruders dicht an seinem Ohr. Und er spürte, dass es seinem Bruder Spaß machte, ihm weh zu tun.
»Nicht!«
Er biss die Zähne zusammen, wappnete sich gegen das, was jetzt folgen würde. Sein Bruder würde erst aufhören, wenn er aus vollem Halse schrie. Das wollte der Kleine nicht, doch es wurde schlimmer und schlimmer, sein Arm tat weh, so fürchterlich weh, ein Knacken in der Schulter, er holte Luft, wollte um Gnade winseln, so, wie er es zum Schluss immer tat.
Plötzlich wurde er losgelassen.
Er rieb den schmerzenden Arm, richtete sich verwundert auf.
Zuerst sah er die Augen seines Bruders. Die Pupillen waren geweitet, starr, wie eingefroren stand er da und stierte über den Zaun. Sein Mund war halb geöffnet, die Unterlippe zitterte. Er schien etwas sagen zu wollen, doch er brachte kein Wort heraus. Ungläubig registrierte der Kleine den dunklen Fleck, der sich im Schritt seines Bruders bildete und langsam größer wurde.
Er folgte dem Blick des Älteren. Sah die Platanen, die kahlen, skelettartigen Äste. Die gusseisernen Gaslaternen, die seit Jahrzehnten nicht mehr gebrannt hatten. Die löchrigen, vom Efeu überwucherten Mauern des Badehauses. Die großen Fenster, dazwischen die verzierte Eingangstür, halb verdeckt von hohen Brennnesseln.
Der Kleine zwinkerte.
Vorhin war die Tür zu gewesen. Jetzt stand sie offen, ein schwarzer Schlund, das zahnlose Maul eines hungrigen Riesen, bereit, jeden zu verschlingen, der es wagte, in seine Nähe zu kommen. Ja, das war gruselig, aber nicht so schlimm. Schließlich konnte der Wind die schief in den Angeln hängende Tür aufgestoßen haben.
»Grzzlmpf!«, blubberte der Ältere und wies mit zitterndem Finger auf den Eingang. Zwischen seinen Füßen hatte sich eine Pfütze gebildet.
Jetzt sah es der Kleine.
Die Gestalt im Eingang, nicht viel mehr als ein Schemen. Das blasse Gesicht verschwamm in der Dunkelheit, ein heller, undeutlicher Fleck. Aber die Augen, die erkannte der Kleine deutlich. Sie sahen zu ihnen herüber.
Beobachteten sie.
Ein weiterer Fleck. Eine Hand kam zum Vorschein, langsam, ganz langsam schloss sich die Tür.
Nein, das war keine Einbildung. Das Knarren war deutlich zu hören.
»Du hast gesagt, sie kommen erst raus,
Weitere Kostenlose Bücher