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Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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anderen, weil das Landesbauamt eine gründliche Untersuchung der Leitplanken angeordnet hatte. Somit war die wichtigste Verkehrsader in Richtung Westen unterbrochen, und Zorn hatte den Volvo in der Tiefgarage stehen lassen.
    Er schlenderte zwischen vierstöckigen, farblosen Mietskasernen dahin. Der Morgen war dunstig und grau, kein Mensch war zu sehen, weder auf der Straße noch hinter den verschmutzten Fenstern. Kaum vorstellbar, dass jemand gern hier lebte, umgeben von verlassenen Getränkeläden, überquellenden Briefkästen und bröselnden Mauern. Doch die Wohnungen standen nicht leer, die Mieten waren billig. Ein paar hundert Meter weiter war zumindest ein Teil der Fassaden saniert, Bäume wuchsen am Straßenrand, doch hier schien alles mit einem Grauschleier überzogen, das einzige Grün stammte vom Unkraut, das zwischen den Ritzen des Kopfsteinpflasters sein kümmerliches Dasein fristete. Zorn war noch nie in seinem Leben in Russland gewesen, doch genau so stellte er sich eine Stadt im Ural oder in der Nähe des Polarkreises vor.
    Er passierte eine verlassene Pizzeria, wich einem umgestürzten Kinderwagen aus und ging über die Straße. Früher hatte dort eine Maschinenfabrik gestanden, jetzt befand sich hier der Parkplatz eines Autohauses. Über dem Eingang hing ein Plakat.
    Nächsten Samstag: Pfefferkuchenmarkt mit Hüpfburg und Sexy Carwash!
    Zorn schlängelte sich zwischen den Autos hindurch, studierte die Schilder mit den Preisen und überlegte zerstreut, ob er sich irgendwann einen neuen Wagen zulegen sollte. Gleichzeitig fragte er sich, was um Himmels willen mit Sexy Carwash gemeint sein konnte.
    Nach kurzem Nachdenken kam er zu dem Schluss, dass er es gar nicht wissen wollte. Für seine Verhältnisse war es noch früh, und er hatte Zeit. Eigentlich musste er erst in einer halben Stunde im Präsidium erscheinen.
    Schritte erklangen, Zorn schrak zusammen, im ersten Moment fürchtete er, der Autohändler habe ihn entdeckt und wolle ihm nun eine Probefahrt mit einem gebrauchten Honda Civic aufschwatzen. Er ging in die Hocke und tat, als würde er das Rücklicht eines schwarzen Audi A8 studieren.
    Zu spät, er war längst entdeckt worden.
    »Guten Morgen, Freund!«
    Diese schleppende, leicht stotternde Stimme hatte Zorn schon einmal gehört. Dann erkannte er im schwarz glänzenden Lack des Audi die leicht verschobene Silhouette des Lampenmanns.
    »Ich bin dir nachgelaufen«, erklärte der Mann.
    Zorn richtete sich auf.
    »Warum?«
    »Weil ich dich gesehen habe. Du hast mir Geld gegeben, weißt du nicht mehr?«
    Der Lampenmann kam näher. Das Werkzeug an seinem Gürtel klimperte leise. Die Stirnlampe an seinem Kopf brannte, einen Moment leuchtete sie Zorn direkt in die Augen.
    »Brauchst du noch mehr Geld?«
    »Nein«, der Lampenmann schüttelte heftig den Kopf, die Plüschtiere an seinem Rucksack begannen zu schaukeln. »Schau, ich habe eine neue Batterie gekauft.« Er wies stolz auf seine brennende Stirnlampe. »Jetzt kann ich wieder sehen. Das ist wichtig, verstehst du?«
    Zorn wich ein wenig zurück, denn der Lampenmann stand jetzt dicht vor ihm. Unwillkürlich hielt er die Luft an, in Erwartung des typischen Gestanks nach Schweiß, ungewaschener Kleidung und billigem Wein.
    Doch da war nichts. Der Mann schien keinen Geruch zu haben. Das Einzige, was Zorn wahrnahm, war ein leichter, angenehmer Duft nach Leder.
    Er sieht aus wie der Weihnachtsmann, dachte er. Nur, dass sein Bart schwarz ist und nicht weiß. Nein, verbesserte er sich in Gedanken, eher wie ein Weihnachtsbaum, mit all dem Krimskrams, mit dem er sich behängt hat.
    Der Lampenmann legte den Kopf ein wenig schief.
    »Hast du Lakritze?«
    »Nee.«
    »Ich liebe Lakritze. Gott hat immer Lakritze.«
    Zorn wusste nicht recht, was er sagen sollte.
    »Wo wohnt er denn?«, fragte er.
    »Wer, Gott?«
    Zorn nickte.
    »Das darf ich dir nicht verraten.« Der Lampenmann kniff ein Auge zusammen. »Ich würde gern, weil du mein Freund bist, aber ich darf nicht. Das ist ein Geheimnis.« Er warf einen Blick über den Parkplatz, als wolle er sicher sein, dass sie allein waren. »Er fährt in einem goldenen Auto«, flüsterte er. »Viel schöner als die hier. Und er hat nur einen Arm. Mehr braucht er nicht.«
    Die Sonne brach durch die Wolken, und jetzt, im Morgenlicht, wirkte der Lampenmann fast mystisch wie er da mit ausgebreiteten Armen zwischen den im Tau glänzenden Autos stand.
    Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und alles war grau und eintönig wie

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