Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
Vom Netzwerk:
zu ihm, nahm seinen Arm und zog ihn dicht zu sich heran.
    »Passen Sie auf meinen Sohn auf«, sagte sie, ihr Mund direkt an seinem Ohr. Sie roch nach Puder und Kölnisch Wasser. »Er hat sonst niemanden.«
    »Das mach ich«, versprach Zorn.
    »Und kommen Sie bald wieder. Meinem Mann geht es schlechter. Ich glaube, Sie tun ihm gut.«
    Zorn sah zum Tisch. Der Alte klaubte mit den Fingerspitzen die Kuchenkrümel von der Decke und steckte sie, einen nach dem anderen, in den Mund.
    »Das verstehe ich nicht«, sagte Zorn, darauf bedacht, dass sie seine Lippen sehen konnte. »Wieso sollte ich Ihrem Mann guttun?«
    Sie führte ihn zum Herd, öffnete eine Schublade und holte ein gerahmtes Foto hervor.
    »Nach Rüdigers Tod hat mein Mann alle Bilder abgehangen, er konnte es nicht ertragen, an ihn erinnert zu werden. Das hier habe ich aufgehoben. Ich weiß nicht, was schlimmer war, die Trauer um seinen Sohn oder die Zeit danach, als er begann in eine andere Welt zu gehen. Erst hat er vergessen, dass Rüdiger gestorben ist.« Sie schob die Brille nach oben und wischte sich über die Augen. »Jetzt glaubt er, dass er wieder da ist.«
    »Warum?«
    Sie reichte ihm das Foto.
    »Darum.«
    Der Mann auf dem Bild war um die dreißig. Er trug Jackett und Schlips, ein Aufzug, der nicht so recht zu den langen schwarzen Haaren und den unrasierten Wangen passen wollte. Die Aufnahme wirkte altmodisch, mindestens zwanzig Jahre alt, das Portrait war in einem Fotoatelier aufgenommen worden, eine Hälfte des Gesichts lag im Schatten. Der Mann wirkte lustlos, widerwillig sah er in die Kamera, einen spöttischen Zug um den Mund.
    Sie fuhr mit dem Finger über das Bild.
    »Sehen Sie’s?«
    Das Haar von Schröders Bruder war dunkler gewesen. Auch die Falten um die Augen waren längst nicht so tief wie bei Claudius Zorn, aber die Farbe war dieselbe, ebenso das eckige, trotzig vorgeschobene Kinn, die hohen Wangenknochen.
    Zorn schluckte.
    Er sah in sein eigenes Gesicht.

Zwanzig
    Die Kälte hatte das alte Badehaus fest im Griff. Die vernagelten Jugendstilfenster boten so gut wie keinen Schutz, ein schneidender Wind pfiff durch die Ritzen zwischen den Brettern und mischte sich mit der frostigen Luft, die aus den salzigen Tiefen durch den achteckigen Brunnen emporstieg.
    Jan Czernyk lief zwischen den hohen Wänden auf und ab. Unter dem Regencape trug er noch immer die Polizeiuniform, zusätzlich hatte er sich eine Decke um die Schultern geschlungen. Seine schlanke Gestalt wirkte plump unter der dicken Kleidung, Vogeldreck und Mörtelstaub wirbelten unter seinen schlurfenden Schritten auf, er ging gebückt, wie ein japanischer Kriegsgefangener durch die gefrorene sibirische Steppe.
    Vor dem Brunnen machte er Halt, hockte sich hin und löste zwei Fliesen. Der Hohlraum dahinter bot gerade genug Platz für den Laptop und die schwarze Ledertasche. Czernyk öffnete den Reißverschluss und kramte zwischen Aktenordnern, tragbarem Drucker und einem halben Dutzend Packungen mit Phenobarbital-Tabletten ein Notizbuch hervor. Zögerte, suchte erneut und förderte seine Dienstwaffe und eine Flasche Jim Beam zu Tage. Die Pistole verschwand in seiner Manteltasche, dann verschloss er die Öffnung im Mauerwerk und ging zu der Hartfaserplatte, die ihm als Tisch diente.
    Dort saß er eine Weile und starrte mit unbewegtem Gesicht auf das Notizbuch. Schließlich öffnete er es, blätterte die eng beschriebenen Seiten durch, bis er zu der Stelle gelangte, an der er vor fast zwei Wochen geendet hatte:
    Niemand wird mir etwas nachweisen können. Nicht, wenn ich es nicht will. Aber das ist nebensächlich.
    Ein Ploppen, Czernyk öffnete die Flasche und nahm einen tiefen Schluck.
    Dann begann er zu schreiben.
    *
    Um die Mittagszeit war die vierte Etage des Präsidiums noch immer gesperrt. Millimeter für Millimeter nahm die Spurensicherung den Flur unter die Lupe, der Fahrstuhl war außer Betrieb, auch hier wurde nach jeder Faser, dem kleinsten Hinweis gesucht, auf welchem Weg die Leiche des Anwalts in Zorns Büro gebracht worden war. Das, so wussten alle, würde einige Zeit dauern, trotzdem (oder gerade deshalb) wurde mit Hochdruck gearbeitet. Die Pressestelle hatte eine vage gehaltene Meldung herausgegeben, weder Name noch genauer Fundort der Leiche wurden erwähnt. Vorerst gab es keine Nachfragen, die Zeitungen waren noch immer mit dem Giftanschlag auf den Polizeiball beschäftigt, seit nunmehr einer Woche füllten Spekulationen, Mutmaßungen und wildeste Theorien die

Weitere Kostenlose Bücher