Zornesblind
überlegte. »Dr. Ostermann war wohl ein Masochist.«
»Und Lexa ist eine Sadistin «, schloss Striker.
Der Begriff ging ihm schwer über die Lippen, aber anders konnte es nicht sein. Lexa war die Dominante in dieser Beziehung. Er hatte spontan wieder das Bild vor Augen, wie sie die Treppe hinunterkam, in ihrem flatternden grünen Kimono, verschwitzt, ihre Pupillen dunkel und geweitet.
»Lexa. Verdammt, wo ist sie eigentlich?«
»Keine Ahnung.«
Striker stellte die Kamera wieder in den Aufzug, das war ein Fall für die Spurensicherung. Unvermittelt kreisten seine Gedanken um die Natter. Er knipste seine Taschenlampe an und leuchtete sorgfältig sämtliche Ritzen und Winkel ab. Keine versteckten Kameras, keine Mikrofone oder vergleichbares Überwachungsequipment. Das musste jedoch nichts heißen.
Der Raum würde gründlich untersucht werden müssen.
Er leuchtete unter das Bett – nichts. Er leuchtete den gesamten Boden ab. Bis er plötzlich stutzte. Auf dem Betonboden unter der Computerkonsole entdeckte er bräunliche Kratzer.
Kratzer, so ähnlich wie bei dem gerahmten Druck.
»Das Sideboard wurde bewegt«, sagte er.
Er packte die Ecken des Schranks und schob ihn langsam von der Wand weg. Dahinter entdeckte er eine Öffnung, etwa so groß wie eine kleinere Mikrowelle. Darin standen zwei Reihen DVD s und Blue-Ray-Boxen. Alle waren mit Back-up beschriftet, darunter das jeweilige Datum. Striker ging sie einzeln durch.
Eins war an diesem Morgen gemacht worden.
Er nahm es und schob es in den Blue-Ray-Player, tippte auf »Play«, und das Video begann. Striker gefror das Blut in den Adern: Das Video war von ihm und Felicia. In Sarah Roses Apartment. Kurz bevor das Feuer ausbrach.
Felicia machte einen langen Hals. »Um Gottes willen, sind wir das?«
Striker blieb stumm. Er blickte von dem Fernseher zu den DVD s in dem Kabuff hinter dem Schrank. Die würden sie sich alle reinziehen müssen. Um irgendeine Spur, irgendwelche Hinweise zu finden.
Es würde Stunden dauern.
Die Aufzeichnung stoppte in dem Moment, als sie die Haustür aufbrechen und flüchten konnten.
Und startete erneut.
Die Aufnahme wackelte, als würde die Kamera hochgehoben. Und dann, für einen winzigen Augenblick, kam ein junger Mann mit wilden, schwarzen Locken ins Bild, seine Augen fast durchscheinend grün.
Felicia wurde aschgrau im Gesicht.
»Dr. Ostermann war gar nicht die Natter«, sagte sie leise. »Es ist …«
»Gabriel«, sagte Striker ungläubig.
Gabriel Ostermann.
Der Junge.
Der Sohn.
Und er war verschwunden.
77
Die Natter schlenderte langsam den Sasamat Trail hinunter, einen der mulchbedeckten Spazierwege, die sich durch den Pacific Spirit Regional Park schlängelten und zu den Klippen führten, die die Bucht überblickten. Tief unten brodelte der Ozean schwarz und tief und eisig.
Wie der Wasserbrunnen.
Er erinnerte sich daran, wie das Fenster zerborsten war, nachdem er die Lampe dagegengeworfen hatte. Mit seinen Aktionen provozierte er zweifellos zu viel Aufmerksamkeit.
Damit hatte er eine Regel des Doktors gebrochen.
Plötzlich klingelte sein Handy, und im Display tauchte der Name des Doktors auf. Die Natter ließ es klingeln und starrte eine lange Weile auf das Display, er mochte nicht drangehen.
Einmal. Zweimal. Drei …
Schließlich nahm er an. »Ich bin’s.«
»Hast du dich inzwischen beruhigt?«
»Ja.«
»Weißt du, was passiert ist?«
»Nein.«
»Dein Vater ist tot, Gabriel. Selbstmord.«
Die Natter schwieg.
»Komm zum Haus am See. Wir treffen dich da. Wir müssen … umdisponieren.«
Die Leitung war tot, und die Natter blieb sichtlich benommen stehen.
Vater war tot. Eigenartig. Er fühlte sich irgendwie leer und leicht. Es war ihm unbegreiflich.
Er schlenderte zum Rand der Klippe, wo er sich auf einen Baumstumpf setzte. Während er auf das dunkle Wasser starrte, nahm er seine letzte und einzige DVD aus der Tasche und drehte sie in den Händen. Das war die eine. Die, mit der alles angefangen hatte. Sein Herzschlag beschleunigte sich, seine Kehle war mit einem Mal staubtrocken.
Nicht mehr lange und er würde wieder die Stimmen hören; er kannte das Muster zur Genüge. Also nahm er seine Headphones und steckte sie in die entsprechende Buchse an seinem iPod. Dann hörte er seine Musik, die himmlische Erlösung durch das weiße Rauschen begann.
Die Natter brauchte einen klaren Kopf. Er musste seine Nerven beruhigen. Und nachdenken.
Ein klarer Kopf war in dieser Situation unverzichtbar. Er durfte
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