Zu Grabe
machte einen Schritt nach vorn und stand nun genau in Morells Blickfeld.
Morell merkte, wie sein Magen sich verkrampfte. Er hatte mit vielem gerechnet, aber damit nicht. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er bei Uhl auf Stimpfl, Nagy oder sogar Zuckermann gestoßen wäre – aber Payer? Er hatte dem kauzigen Kerl vertraut. War das etwa ein Fehler gewesen? Reflexartig griff er an seinen Bauch. Normalerweise konnte er seinem Bauchgefühl doch immer trauen. Hatte die Diät etwa sein Urteilsvermögen getrübt?
»Kannst du mir die Sachen bitte so schnell wie möglich vorbeibringen? Der Kunde wartet nämlich schon ungeduldig«, sagte Uhl.
»Kein Problem, das kriege ich locker hin. Was für ein Glück, dass ich immer noch ein paar Schlüssel aus meiner Zeit bei der Stadtarchäologie habe.« Payer ließ sein typisches Weihnachtsmannlachen erklingen. »Die ersten beiden hole ich gleich jetzt und bring sie dir heute noch oder morgen vorbei. Den Rest kriegst du je nachdem, wie schnell ich fündig werde, wahrscheinlich Dienstag.«
»Super! Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.« Uhl klopfte Payer auf die Schulter. »Das Geld kriegst du dann auch gleich.«
»Passt.« Payer lachte erneut laut auf. »Dann bis bald.«
Morell machte vorsichtig ein paar Schritte zurück auf die Straße und huschte in den nächsten Hauseingang. Wovon hatten die beiden nur geredet? Und was sollte er jetzt tun? Er musste sich entscheiden: Sollte er Payer verfolgen und versuchen herauszufinden, welche zwei Dinge er holen ging, oder sollte er lieber hierbleiben und Uhl mit den Listen aus Stimpfls Schachtel konfrontieren? Er entschied sich für Ersteres. Uhl konnte er später immer noch befragen.
Morell beobachtete mit angehaltenem Atem, wie Payer aus dem Innenhof geschlendert kam und anschließend in nördlicher Richtung die Blutgasse entlangspazierte. Er wartete, bis der Abstand zwischen ihm und Payer groß genug war, und nahm dann die Verfolgung auf. »Ernst Payer«, murmelte er. »Dir hätte ich es am allerwenigsten zugetraut.«
Payer bog erst links in die Domgasse und anschließend in die Schulergasse ein und steuerte dann direkt auf den Stephansdom zu. Morell erwartete, dass er sich hier ein Taxi nehmen, runter in die U-Bahn gehen oder an der Bushaltestelle warten würde, doch der schrullige Archäologe tat nichts dergleichen. Er blieb neben dem Nordturm stehen, zog aus seiner Hosentasche einen Schlüssel, eine Taschenlampe und eine Plastiktüte und ging zur Nordwand des mächtigen gotischen Doms. Dort schaute er kurz nach links und rechts, sperrte dann eine unscheinbare Gittertür auf und verschwand dahinter.
Morell folgte ihm. Die Tür bestand aus dicken Metallstäben und gab den Blick auf eine eiserne Falltür frei. Dahinter befand sich ein riesiges Kreuz, unter dem eine Inschrift stand. Er versuchte, in dem diffusen Licht die Buchstaben zu entziffern:
An dieser Stätte wurde des unsterblichen W. A. Mozart Leichnam am 6. Dez. 1791 ausgesegnet.
»Nichts als Tote«, stellte er fest, drückte behutsam die Klinke nach unten und übte sanften Druck auf das Gitter aus, das sich tatsächlich öffnete. Was für ein Glück, dass Payer es nicht wieder abgesperrt hatte. Morell trat nach innen, hob einen Flügel der Falltür hoch und konnte die Umrisse einer Stiege ausmachen, die steil in die Tiefe führte. Was zum Teufel war dort unten? Eine unterirdische Kapelle? Eine archäologische Ausgrabungsstätte? Ein alter Geheimgang?
Er stieg vorsichtig die ersten paar Stufen nach unten und stand bald in tiefschwarzer Dunkelheit. Nicht einmal die Hand vor Augen konnte er sehen. Vorsichtig schob er einen Fuß vor den nächsten und gelangte so, völlig blind, Stufe für Stufe ans untere Ende der Treppe. Wo um Gottes willen befand er sich nur? Es roch muffig hier. Ungelüftet und modrig. Er tastete sich an der Wand entlang und stellte fest, dass sie sehr wahrscheinlich aus unverputzten Ziegelsteinen bestand. Sie fühlte sich kalt und feucht an und brachte ihn zum Schaudern. Morell konnte gar nicht glauben, dass er sich unter dem Stephansdom befand – es kam ihm hier eher vor wie mitten im Prater, und zwar direkt in der Geisterbahn.
Er ging noch ein paar unsichere Schritte, blieb dann stehen und lauschte in die Dunkelheit hinein. Er konnte Payer weder hören noch den Schein der Taschenlampe sehen. Crazy Ernstl war also offenbar außer Sichtweite. Er holte sein Handy aus der Jacke, klappte es auf und ließ das kühle, bläuliche Licht, das
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