Zu Grabe
wissen schon – in den arabischen Ländern kann man nicht einfach mit einer Frau herummachen und dann wieder abhauen. Da spielt der Ehrenkodex eine ganz wichtige Rolle. Aber wie auch immer. Harr blieb bei seiner Flamme, und wir sind ohne ihn zurück nach Wien gefahren.« Nagy machte eine kurze Pause. »Insgeheim war ich mir ehrlich gesagt sicher, dass das mit den beiden nicht lange halten und dass Harr nach einigen Monaten wieder kleinlaut nach Österreich zurückkommen würde, aber ich habe mich getäuscht und seit damals nie wieder etwas von ihm gehört. Wahrscheinlich sitzt er mit einer riesigen Schar von Kindern und Enkeln irgendwo im syrischen Hinterland und lässt es sich gutgehen.«
»Wissen Sie zufällig, ob er noch zu irgendwem in Österreich Kontakt haben könnte?«
»Ich glaube nicht. Harr hatte keine Geschwister, und seine Eltern sind früh gestorben. Familie gibt es also keine mehr.«
»Und Freunde?«
»Er war immer ein verschlossener Einzelgänger. Ich denke nicht, dass er wirklich gute Freunde hatte. Ich glaube, es ist ihm damals ziemlich leichtgefallen, alle Brücken abzubrechen.«
»Kein Wunder, dass ich ihn nicht finden konnte.« Bender bedankte sich, legte auf und wählte die Nummer von Morell, um ihm die Neuigkeiten zu erzählen.
»Was die Welt betrifft, so ist sie ein Grab und weiter nichts.«
Alexandre Dumas, Die drei Musketiere
Morell hatte in der Zwischenzeit nicht ganz so viel Erfolg wie sein Assistent: Im Gefängnis herrschte momentan keine Besuchszeit, und der zuständige Beamte wollte sich um nichts in der Welt erweichen lassen.
»Es ist gerade keine Besuchszeit, und damit aus.«
»Es ist aber dringend.« Morell war nicht bereit, so schnell aufzugeben.
»Das Leben ist kein Wunschkonzert«, stellte der Justizvollzugsbeamte trocken fest und wandte sich wieder irgendwelchen Unterlagen zu.
»Ich muss Herrn Lorentz wirklich unbedingt sprechen.«
»Sind Sie sein Anwalt oder was?«
Morell überlegte, wie viel er preisgeben sollte. »Nein, ich bin kein Anwalt, ich bin …«
Der Justizvollzugsbeamte sah Morell fragend an. »Ich höre«, sagte er.
Morell entschied, alle Ängste und Zweifel beiseitezuwischen. Weber war so oder so schon drauf und dran, ihm seine Marke abzunehmen. Was hatte er also zu verlieren? »Ich bin Polizist. Zwar in zivil, aber nichtsdestotrotz ein Polizeibeamter.« Er zeigte dem Beamten seine Marke. »Ich verstehe, dass Sie sich an die Vorschriften halten müssen, aber könnten Sie nicht vielleicht eine klitzekleine Ausnahme machen?« Morell holte tief Luft. »Bitte«, fügte er hinzu.
»Chefinspektor Otto Morell?« Der Beamte schaute sich die Marke an und pfiff durch die Zähne. »Von Ihnen habe ich bereits gehört.«
O nein!, schoss es Morell durch den Kopf. Weber war also schneller gewesen und hatte bereits alle Stellen vor ihm gewarnt. Er spürte, wie sich sein ganzer Körper mit einer dünnen Schicht aus kaltem Schweiß überzog.
»Sie sind der, der letztes Jahr den Serienkiller in Tirol gefasst hat, nicht wahr?«
Morell nickte etwas verunsichert.
Der Beamte lachte und streckte Morell seine Hand entgegen. »Das habe ich in der Zeitung gelesen. Top Job! Gut gemacht!«
Morell schüttelte die Hand des Beamten. Er war einerseits erleichtert, aber gleichzeitig auch peinlich berührt. Verlegen kratzte er sich am Kopf.
»Wissen Sie was?«, flüsterte der Beamte und blickte verstohlen um sich. »Ich kann Sie zwar nicht zum Herrn Lorentz reinlassen, das wär’ zu auffällig – aber weil Sie’s sind, kann ich dem Herrn Lorentz vielleicht eine Nachricht zukommen lassen.« Er schob Morell unauffällig ein Blatt Papier zu und zwinkerte.
»Tausend Dank!« Morell griff nach dem Papier, zog einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke und schrieb eine Nachricht mit den wichtigsten Informationen an Lorentz. Dann faltete er das Blatt, legte eine Kopie der Listen von Uhl dazu und reichte sie dem Beamten. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Vielen Dank noch mal.«
»Schon gut«, nickte der Mann. »Ich drücke Ihnen die Daumen für Ihre Ermittlungen. Wiederschaun.«
Als Morell auf die Straße trat, schaute er auf die Uhr: Nicht einmal sechs, und es fing bereits an zu dämmern. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis oben zu – mittlerweile war es ganz schön kühl geworden, und damit nicht genug: Ein fieser Wind blies beißend durch die Gasse. Irgendwie typisch wienerisch, fand Morell.
Er stellte seinen Kragen hoch und überlegte, was er
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