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Zu Grabe

Zu Grabe

Titel: Zu Grabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Larcher
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erfüllte. War das etwa die Chance, um die er gebeten hatte? Langsam atmen, sagte er zu sich selbst, während er den Eindringling musterte. Dieser hatte sich neben das Fenster gestellt, den Vorhang vorsichtig zur Seite geschoben und versuchte nun, zu erkennen, wer unten vor der Tür stand. Ein drittes Läuten schrillte durch das Zimmer und dieses Mal wurde Meinrad klar, dass dies womöglich seine einzige und letzte Chance war. Er nahm all seinen Mut zusammen, sprang auf und rannte in Richtung Ausgangstür.
    Dann ging alles ganz schnell.

»Wer weiß es? Ständ’ ich nicht mit meinem Stab.
    Hier an dieses Geistesverwandten Grab,
    So könnt’ ich denken, ich selbst läge dort.«
    Henrik Ibsen, Peer Gynt
    Bender nahm einen großen Schluck Kaffee und verdrängte seine sorgenvollen Gedanken an Fred. Er würde jetzt diesen Harr auftreiben – koste es, was es wolle. Wenn er nämlich helfen konnte, Lorentz aus dem Gefängnis zu holen, würde das den Chef vielleicht milde stimmen.
    Er ging noch einmal die Fakten durch, die er bisher hatte zusammentragen können: Es gab einen gewissen Gustaf Georg Harr, der am 6. Mai 1942 in Wien geboren worden war. Komischerweise waren aber abgesehen von der Registrierung seiner Geburt keine weiteren Meldungen über ihn zu finden: kein Eintrag im zentralen Melderegister, kein Eintrag vom Standesamt über eine Eheschließung oder Scheidung, kein Eintrag im Strafregister, keine Sterbeurkunde oder wenigstens irgendein kleiner Eintrag in den unendlichen Weiten des World Wide Web. Bender rieb seine Schläfen und starrte auf den Computermonitor. Irgendetwas war hier faul. Menschen hinterließen normalerweise Spuren. Es konnte doch nicht sein, dass irgendwer einfach so von der Bildfläche verschwand. Immerhin war das hier Österreich und nicht irgendein korrupter Staat in der Dritten Welt.
    Er nahm noch einen Schluck Kaffee, als ihm plötzlich eine Idee kam. Eigentlich hätte er schon viel früher draufkommen können – es war ja ganz naheliegend: Wenn die anderen Männer, die er für Morell recherchiert hatte, Bekannte beziehungsweise ehemalige Arbeitskollegen von diesem Harr waren, dann wussten sie vielleicht, wo er steckte. Mit einem Grinsen, das vom einen Ohr zum anderen reichte, griff Bender nach der Liste und rief bei der ersten Nummer an.
    Da bei Meinrad keiner abhob, versuchte er es bei der nächsten Nummer.
    »Hier bei Professor Nagy«, meldete sich eine weibliche Stimme schon nach dem zweiten Klingelton.
    »Mein Name ist Inspektor Robert Bender, und ich hätte gerne mit dem Herrn Professor gesprochen.«
    »Worum geht es, wenn ich fragen darf?«
    »Das ist vertraulich.«
    »Einen Moment, ich stelle Sie durch«, sagte die Frau und klang dabei ziemlich verstimmt.
    »Nagy«, meldete sich kurz darauf der Professor.
    »Grüß Gott, mein Name ist Inspektor Robert Bender. Ich bin auf der Suche nach einem gewissen Gustaf Harr – können Sie mir vielleicht weiterhelfen?«
    Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille.
    »Hallo? Herr Nagy? Sind Sie noch dran?«
    »Ja, ich bin noch da. Darf ich fragen, wie Sie darauf kommen, dass ausgerechnet ich Ihnen in dieser Sache weiterhelfen kann?«
    »Sie waren doch vor etwas mehr als dreißig Jahren mit Herrn Harr auf einer Ausgrabung in Syrien – das ist die letzte Spur, die ich von ihm habe. Es scheint fast so, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Ich hatte gehofft, dass Sie, als einer seiner ehemaligen Kollegen, mir vielleicht irgendeinen Anhaltspunkt liefern können: eine Adresse, den Namen eines guten Freundes – irgendetwas, das mir helfen könnte, seinen momentanen Aufenthaltsort zu finden.«
    »Tja, das dürfte schwierig werden.«
    »Und warum, wenn ich fragen darf?« Bender wurde langsam ungeduldig.
    »Weil Harr nicht mehr in Österreich lebt, sondern in Syrien, und nicht einmal das ist sicher.«
    »Könnten Sie mir das bitte näher erläutern?« Musste man diesem Kerl denn alles aus der Nase ziehen?
    »Nun, was soll ich großartig dazu sagen? Harr hat sich damals Hals über Kopf in ein temperamentvolles, schwarzhaariges Mädel aus einem der Nachbardörfer verliebt.« Nagy lachte. »Die hatte ihm mit ihren dunklen Augen ganz schön den Kopf verdreht. Der gute Harr, der sonst so trocken und konservativ daherkam, war kaum wiederzuerkennen.«
    »Er ist also einfach in Syrien geblieben?«
    »Genauso war es. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es sein freier Wille war oder ob er von seinem Schwiegervater in spe dazu gezwungen worden ist. Sie

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