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Zu Grabe

Zu Grabe

Titel: Zu Grabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Larcher
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das Display ausstrahlte, langsam über den Fußboden und die Wände wandern: Er befand sich in einem schmalen Tunnel, dessen Wände aus rotbraunen Backsteinen und dessen schroffer Boden aus gestampftem Lehm bestand. Wo dieser Tunnel wohl hinführte? Morell ging ein paar Schritte weiter, indem er die Umgebung mit Hilfe seines Handys ableuchtete – und erstarrte.
    Er konnte zwar nicht viel sehen, aber das Wenige reichte völlig aus, um ihm alle Haare zu Berge stehen zu lassen: Direkt links von ihm befand sich ein riesiger Haufen menschlicher Knochen. Morell klappte sein Handy zu und dann wieder auf, um das Display erneut zum Leuchten zu bringen, und hielt mit seiner mickrigen Lichtquelle noch einmal auf die Gebeine. Das mussten Hunderte von Skeletten sein, die hier wild durcheinander herumlagen. Er machte einen kleinen Schritt auf den grausigen Berg zu und zwinkerte. Nein, es war kein Traum und auch keine dumme Verwechslung. Direkt vor ihm lagen unzählige gelblich braune Knochen.
    »Ach du Schande!« Morell versuchte seine Fassung wiederzuerlangen. »Kein Gejammer, keine Schwäche«, sagte er leise und holte mehrmals tief Luft, als ihm plötzlich einfiel, wo er war – und zwar mitten in den Wiener Katakomben. Er hatte bereits davon gehört: Wie ein Labyrinth erstreckten sich diese Tunnel und Kammern bis hin unter den Stephansplatz. Irgendwo hier drinnen lagen die Eingeweide der Habsburger, mehrere einbalsamierte Bischöfe und die Überreste von Tausenden von Pesttoten. Reflexartig hielt Morell sich die Hand vor die Nase und den Mund.
    Er erinnerte sich, dass ihn vor vielen Jahren ein paar seiner Freunde zu einer geführten Tour durch die Katakomben hatten überreden wollen – doch er hatte abgelehnt. Er hatte es nicht nur pietätlos, sondern auch viel zu gruselig gefunden, sich auf einem unterirdischen Friedhof herumzutreiben. Und jetzt stand er hier: Allein. Im Dunkeln. Und irgendwo in diesem schauderhaften Labyrinth lief ein Mann herum, der möglicherweise ein Mörder war.
    Morell beschloss umzukehren. Noch länger hier zu bleiben war einfach zu gefährlich. Niemand wusste, wo er war, und er konnte sich leicht verirren oder stolpern und in irgendeinen Schacht oder ein Loch fallen. Zudem waren die Gänge irrsinnig schmal – wenn er also auf Payer stieß, hatte er keine Möglichkeit, sich zu verstecken oder auszuweichen.
    Er tastete sich rückwärts bis zu der Stiege, ging hoch und schlüpfte wieder zur Tür hinaus. Draußen angekommen, nahm er einen tiefen Atemzug frischer Luft und stellte sich dann vis-à-vis vom Nordturm an die Bushaltestelle. Dort wartete er darauf, dass Payer wieder zurückkam.
    Und tatsächlich – nur kurze Zeit später öffnete sich die unscheinbare Tür einen kleinen Spalt breit, und Payer schlüpfte heraus. In seiner Hand hielt er die Plastiktüte, die jetzt eindeutig nicht mehr leer war. Der Archäologe schaute unauffällig nach rechts und links und spazierte dann, so als wäre nichts geschehen, wieder zurück in Richtung Blutgasse. Morell ließ ihm etwas Vorsprung und folgte ihm dann so diskret wie möglich.
    Payer marschierte schnurstracks zurück zu Uhl, klopfte dort an die Tür und wurde prompt eingelassen. Nur wenige Augenblicke später gingen sämtliche Lichter im Geschäft aus, und es war nur der blasse, kleine Schimmer aus dem Lager zu sehen.
    »Wartet nur ab, ihr zwei komischen Vögel«, sagte Morell leise. »Ich werde euch schon noch auf die Schliche kommen.« Er stellte den Kragen seiner Jacke hoch, steckte die Hände in die Taschen und machte sich auf den Weg zurück zu Nina Capelli.

»Man muß seine Schmerzen vergessen können
    oder sich ein Grab schaufeln.«
    Honoré de Balzac
    Er hatte sich auf dem Weg nach Hause eine Schachtel Zigaretten aus einem Automaten gezogen. Zwar hatte er schon vor vielen Jahren mit dem Rauchen aufgehört, doch heute war der perfekte Tag, um wieder damit anzufangen. Mit zitternden Händen zündete er sich eine an und sog den nikotinhaltigen Rauch gierig in seine Lunge.
    Was für ein elender Mist. Er hatte Meinrad getötet, noch bevor dieser ihm die ganze Wahrheit hatte erzählen können. Das Durchschneiden von Meinrads Kehle war mehr ein Reflex als eine gewollte Bewegung gewesen. Er war schlicht und ergreifend in Panik geraten, als Meinrad wegrannte und um Hilfe schreien wollte. Es war so schnell und auch so leicht gegangen.
    Er hustete. Seine Lunge war die Zufuhr von Teer und Nikotin nicht mehr gewohnt. Vielleicht hätte er sich doch

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