Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

die Auftritte. Es solle allen Spaß machen, erklärte sie. Den Schülern ebenso wie den Zuschauern.
    Natürlich zählte sie darauf, dass Jon da sein würde. Edies Tochter gehörte zu denen, die auftraten, also musste Edie kommen. Und Jon musste Edie begleiten.
    Jons und Edies erster Auftritt als Paar vor der ganzen Stadt. Ihr Bekenntnis. Davor konnten sie sich nicht drücken. Solch ein Partnerwechsel war nicht beispiellos, besonders nicht unter den Leuten, die südlich der Stadt wohnten. Aber ganz alltäglich war er auch nicht. Es reichte nicht zu einem Skandal, aber das hieß nicht, dass so etwas keine Beachtung fand. Eine gewisse Zeitlang wurde darüber geredet, bis schließlich wieder Ruhe einkehrte und alle sich an die neue Verbindung gewöhnt hatten. Wie die Beteiligten selbst, und es konnte gut sein, dass die neu liierten Partner im Lebensmittelgeschäft mit den Verflossenen plauderten oder sie zumindest grüßten.
    Aber das war nicht die Rolle, in der Joyce sich sah, beobachtet von Jon und Edie – eigentlich nur von Jon; am Abend des Konzerts.
    Aber was sah sie? Wer weiß. Sie stellte sich, jedenfalls in klaren Momenten, nicht vor, sie werde Jon derart beeindrucken, dass er zur Vernunft käme, wenn sie am Schluss des Abends auftrat, um den Applaus des Publikums entgegenzunehmen. Sie stellte sich nicht vor, dass ihm ob seiner Torheit das Herz brechen werde, wenn er sie glücklich und bildschön und obenauf sah und nicht trübsinnig und selbstmordgefährdet. Aber etwas nicht weit weg davon – etwas, das sie nicht genau beschreiben konnte, sich aber nach wie vor erhoffte.
    Es war das beste Konzert überhaupt. Alle sagten das. Es hatte mehr Verve, hieß es. Mehr Fröhlichkeit, dabei mehr Intensität. Die Kinder in Kostümen, die mit der von ihnen vorgetragenen Musik harmonierten. Die Gesichter geschickt geschminkt, damit sie nicht wie verängstigte Opferlämmer wirkten.
    Als Joyce am Schluss auf die Bühne kam, trug sie einen langen schwarzen Seidenrock, der bei jeder Bewegung silbern glänzte. Außerdem silberne Armreifen und Flitter im offenen Haar. Einige bewundernde Pfiffe mischten sich in den Applaus.
    Jon und Edie waren nicht unter den Zuschauern.

II
    Joyce und Matt geben eine Party in ihrem Haus in North Vancouver. Das geschieht zur Feier von Matts fünfundsechzigstem Geburtstag. Matt ist Neuropsychologe und außerdem ein guter Amateurgeiger. So hat er Joyce kennengelernt, jetzt eine professionelle Cellistin und seine dritte Frau.
    »Sieh doch nur all diese Menschen«, sagt Joyce ein ums andere Mal. »Wahrhaftig eine ganze Lebensgeschichte.«
    Sie ist eine magere, alert aussehende Frau mit einem Wust zinnfarbener Haare und leicht krummem Rücken, der vom Umarmen ihres großen Instruments herrühren kann oder einfach von der Angewohnheit, eine gute Zuhörerin und eifrige Gesprächspartnerin zu sein.
    Matts Kollegen vom College sind natürlich da, diejenigen, die er für seine Freunde hält. Er ist ein großzügiger, aber freimütiger Mann, kein Wunder also, dass nicht alle Kollegen in diese Kategorie gehören. Seine erste Frau Sally ist auch da, begleitet von ihrer Pflegerin. Sallys Gehirn trug schwere Schäden davon, als sie mit neunundzwanzig Jahren einen Autounfall hatte, deshalb ist es unwahrscheinlich, dass sie weiß, wer Matt ist oder wer ihre drei erwachsenen Söhne sind oder dass dies das Haus ist, in dem sie als junge Ehefrau gelebt hat. Aber ihre charmanten Umgangsformen sind ihr geblieben, und so freut sie sich, jemandes Bekanntschaft zu machen, auch wenn es schon das zweite Mal innerhalb einer Viertelstunde ist. Ihre Pflegerin ist eine schmucke kleine Schottin, die immer wieder erklärt, dass sie so große, laute Partys gar nicht gewohnt sei und dass sie nicht trinke, solange sie im Dienst sei.
    Matts zweite Frau Doris lebte weniger als ein Jahr mit ihm zusammen, obwohl sie drei Jahre lang mit ihm verheiratet war. Sie ist mit ihrer wesentlich jüngeren Lebensgefährtin Louise und der kleinen Tochter da, die Louise vor wenigen Monaten zur Welt gebracht hat. Doris ist mit Matt befreundet geblieben und besonders mit Tommy, dem jüngsten Sohn von Matt und Sally, für den sie sorgte, weil er zur Zeit ihrer Ehe mit seinem Vater noch klein war. Die beiden älteren Söhne von Matt sind mit ihren Kindern und den Müttern ihrer Kinder da, obwohl eine der Mütter nicht mehr mit dem Vater verheiratet ist. Der wird von seiner gegenwärtigen Lebensgefährtin und deren Sohn begleitet, der sich gerade mit