Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
geartet? Edie war nicht dumm. Jon sagte, zumindest als Schreinerin war sie kein Genie, aber sie lernte dazu und behielt, was sie gelernt hatte. Aber am wichtigsten war, dass sie nicht zu Geschwätzigkeit neigte. Davor hatte er die größte Angst gehabt, als sich die Möglichkeit ergeben hatte, einen Lehrling einzustellen. Ein Regierungsprogramm war aufgelegt worden – er sollte einen bestimmten Betrag dafür erhalten, einer Person etwas beizubringen, die außerdem während der Ausbildung genug Geld für den Lebensunterhalt bekam. Anfangs war er nicht dazu bereit, doch Joyce hatte ihn überredet. Sie fand, sie hatten eine Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber.
Edie mochte nicht viel reden, aber wenn sie sich äußerte, dann mit Nachdruck.
»Ich meide alle Drogen und den Alkohol«, erklärte sie ihnen beim ersten Gespräch. »Ich gehöre den Anonymen Alkoholikern an und bin trocken, aber nicht gesund. Wir sagen nie, dass wir gesund sind, denn wir sind es nicht. Man wird es nie mehr, solange man lebt. Ich habe eine neunjährige Tochter, und sie wurde ohne Vater geboren, also bin ich allein für sie verantwortlich und habe die Absicht, sie gut zu erziehen. Mein Ehrgeiz ist es, Tischlerin zu lernen, damit ich für mich und mein Kind sorgen kann.«
Während dieser Rede saß sie da und sah beiden in die Augen, immer abwechselnd, über den Küchentisch hinweg. Sie war eine kleine, kräftige junge Frau, die nicht alt oder zerstört genug aussah, um eine lange Karriere als Trinkerin hinter sich zu haben. Breite Schultern, dichter Pony, dicker Pferdeschwanz, keine Aussicht auf ein Lächeln.
»Und noch eins«, sagte sie. Sie knöpfte ihre langärmelige Bluse auf und zog sie aus. Sie trug ein Unterhemd. Beide Arme, der obere Teil ihrer Brust und – als sie sich umdrehte – ihres Rückens waren mit Tätowierungen bedeckt. Es war, als sei ihre Haut zu einem Kleidungsstück geworden oder auch zu einem unendlichen Comic aus verzerrten Fratzen und zarten Gesichtern, heimgesucht von Drachen und Meeresungeheuern und Flammen, zu verworren oder vielleicht zu entsetzlich, um verständlich zu sein.
Als Erstes fragte man sich natürlich, ob ihr ganzer Körper derart umgestaltet war.
»Wie beeindruckend«, sagte Joyce so neutral wie möglich.
»Also ich weiß nicht, wie beeindruckend es ist, aber es hätte einen Haufen Geld gekostet, wenn ich’s hätte bezahlen müssen«, sagte Edie. »Auf so was hab ich mal gestanden. Ich zeig’s Ihnen bloß, weil manche Leute was dagegen haben. Könnte ja sein, es wird heiß im Schuppen und ich muss im Hemd arbeiten.«
»Wir nicht«, sagte Joyce und sah Jon an. Der zuckte die Achseln.
Sie fragte Edie, ob sie eine Tasse Kaffee wolle.
»Nein, danke.« Edie zog ihre Bluse wieder an. »Viele bei den AA s, die scheinen geradezu von Kaffee zu leben. Ich sage denen immer, ich sage, warum tauscht ihr eine schlechte Angewohnheit gegen eine andere?«
»Erstaunlich«, sagte Joyce hinterher. »Man hat das Gefühl, ganz egal, was man sagt, sie hält einem gleich einen Vortrag. Ich habe nicht gewagt, nach der unbefleckten Empfängnis zu fragen.«
Jon sagte: »Sie ist stark. Das ist die Hauptsache. Ich hab mir ihre Arme angesehen.«
Wenn Jon stark sagt, meint er genau das, was das Wort früher bedeutete. Er meint, sie kann Bäume ausreißen.
Bei der Arbeit hört Jon im Radio CBC . Musik, aber auch Nachrichten, Kommentare und Hörersprechstunden. Manchmal gibt er wieder, welche Meinungen Edie dazu geäußert hat.
Edie glaubt nicht an die Evolution.
(Es hatte eine Hörersprechstunde gegeben, in der sich einige gegen das äußerten, was in den Schulen unterrichtet wurde.)
Warum nicht?
»Na, weil in diesen Bibelländern –«, sagte Jon und schaltete dann zu seiner festen, eintönigen Edie-Stimme um, »– da in diesen Bibelländern gibt es viele Affen, und die Affen haben sich immer von den Bäumen heruntergeschwungen, und deshalb sind manche auf die Idee gekommen, dass Affen sich einfach heruntergeschwungen und in Menschen verwandelt haben.«
»Aber zuallererst …«, sagte Joyce.
»Lass sein. Versuch’s gar nicht erst. Kennst du nicht die erste Regel in Streitgesprächen mit Edie? Lass sein und halt den Mund.«
Edie glaubte auch, dass die großen Pharmakonzerne das Heilmittel gegen Krebs kannten, aber in Absprache mit den Ärzten diese Information wegen des Geldes, das sie und die Ärzte verdienten, geheim hielten.
Als die »Ode an die Freude« im Radio gespielt wurde, musste Jon sie
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