Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
abstellen, weil Edie sie schrecklich fand, wie eine Beerdigung.
Außerdem war sie der Meinung, Jon und Joyce – na ja, eigentlich Joyce – sollten Weinflaschen, in denen noch Wein drin war, nicht einfach weithin sichtbar auf dem Küchentisch stehen lassen.
»Geht sie das was an?«, fragte Joyce.
»Ihrer Meinung nach ja.«
»Wann hat sie Zeit, unseren Küchentisch zu überprüfen?«
»Sie muss durch die Küche, wenn sie auf die Toilette geht. Sie kann ja nicht gut ins Gebüsch pinkeln.«
»Ich weiß wirklich nicht, was sie das …«
»Und manchmal kommt sie rein und macht uns ein Sandwich …«
»Na und? Es ist meine Küche. Unsere.«
»Das ist doch nur, weil sie sich vom Alkohol bedroht fühlt. Sie ist immer noch ziemlich verletzlich. So was können wir beide gar nicht verstehen.«
Bedroht. Alkohol. Verletzlich.
Was waren das für Wörter, die Jon auf einmal benutzte?
Endlich, in diesem Augenblick, begriff sie es, obwohl er selbst davon noch keine Ahnung hatte. Er war dabei, sich zu verlieben.
Er war dabei. Das deutet auf eine Zeitspanne hin, auf ein Hineingleiten. Aber man kann es sich auch wie einen Ruck vorstellen, wie einen Augenblick oder eine Sekunde. Jetzt ist Jon nicht in Edie verliebt. Tick. Jetzt ist er es. Das kommt einem völlig unwahrscheinlich oder unmöglich vor, es sei denn, man denkt an einen Schlag vor den Kopf, eine plötzliche Heimsuchung. An den Schicksalsschlag, der einen Mann zum Krüppel macht, den bösen Scherz, der klare Augen in blinde Steine verwandelt.
Joyce machte sich daran, ihn davon zu überzeugen, dass er sich irrte. Er hatte so wenig Erfahrung mit Frauen. Keine, außer mit ihr. Sie hatten immer die Meinung vertreten, dass Experimente mit verschiedenen Partnern kindisch waren, dass Ehebruch umständlich und zerstörerisch war. Jetzt fragte sie sich: Hätte er öfter mal was mit einer anderen haben sollen?
Und er war die dunklen Wintermonate lang in seiner Werkstatt eingesperrt gewesen, der selbstgewissen Ausstrahlung von Edie ausgeliefert. Vergleichbar einer Erkrankung durch ständige schlechte Luft.
Edie würde ihn noch verrückt machen, wenn er sie weiterhin ernst nahm.
»Hab dran gedacht«, sagte er. »Vielleicht hat sie’s schon.«
Joyce sagte, das sei blödes, pubertäres Gerede, so zu tun, als sei er ohnmächtig und hilflos.
»Was bildest du dir ein, wer du bist, ein Ritter der Tafelrunde? Hat dir jemand einen Zaubertrank verabreicht?«
Dann entschuldigte sie sich. Da bleibe nur eins, sagte sie, nämlich das gemeinsam zu bewältigen. Die Wanderung durchs finstre Tal. Eines schönen Tages nur noch ein kleiner Ausrutscher in ihrer Ehe.
»Wir werden das durchstehen«, sagte sie.
Jon sah sie wie von ferne, sogar freundlich an.
»Es gibt kein ›wir‹«, sagte er.
Wie konnte das passieren? Joyce fragt das Jon und sich selbst und dann andere. Ein trampeliges, traniges Lehrmädchen in ausgebeulter Hose und Flanellhemden und – jedenfalls zur Winterszeit – einem dicken, graubraunen, mit Sägemehl bestäubten Pullover. Ein Verstand, der unerbittlich von einem Klischee oder Fimmel zum nächsten stapft und jeden Schritt der Reise zum Dogma erklärt. Solch eine Person hat Joyce ausgestochen, Joyce mit ihren langen Beinen, der schlanken Taille und dem langen Zopf aus dunklen, seidigen Haaren. Mit ihrem Witz und ihrer Musik und dem zweithöchsten Intelligenzquotienten.
»Ich will dir sagen, woran es, glaube ich, gelegen hat«, sagt Joyce. Später, als die Tage länger geworden sind und die Kerzen der Sumpflilien in den Gräben flammen. Als sie mit Sonnenbrille zum Musikunterricht erschien, um Augen zu verbergen, die vom Weinen und Trinken geschwollen waren, und nach der Arbeit nicht nach Hause, sondern in den Willingdon Park fuhr, in der Hoffnung, Jon werde aus Angst vor ihrem Selbstmord dort nach ihr suchen. (Was er auch tat, aber nur einmal.)
»Ich glaube, es hat daran gelegen, dass sie auf der Straße gewesen ist«, sagt sie. »Prostituierte lassen sich fürs Geschäft tätowieren, und Männer erregt so was. Ich meine nicht die Tätowierungen – die natürlich auch, die erregen sie auch –, ich meine die Tatsache, dass sie käuflich gewesen ist. So viel Verfügbarkeit und Erfahrung. Und jetzt bekehrt. Da hast du sie, die verfickte Maria Magdalena, wie sie leibt und lebt. Und er ist sexuell völlig unbedarft, das Ganze ist wirklich zum Kotzen.«
Sie hat jetzt Freundinnen, mit denen sie so reden kann. Sie alle haben Geschichten zu erzählen.
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